# taz.de -- Besuch bei irakischen Flüchtlingen: Ihre Zukunft liegt in München | |
> Vor einem Jahr kamen die Al-Rawis nach Deutschland, fünf von 2.500 | |
> irakischen Kontingentflüchtlingen. Wie leben sie heute? | |
Bild: Eine neue Heimat in Deutschland: Die Al-Rawis kamen nach München. | |
MÜNCHEN taz | Hakim Al-Rawi überlegt einen Augenblick. "München ist schön", | |
sagt er stockend auf Deutsch. Dann strahlt der sonst so ernste Mann. | |
Gemeinsam mit seiner Familie in München zu leben, davon hat der 57-jährige | |
Iraker seit Jahren geträumt. München, das verhieß Sicherheit, ein Leben, in | |
dem er mit seiner Frau und den Töchtern neu anfangen und die gemeinsame | |
Religion frei praktizieren kann. | |
Die Al-Rawis sind Mandäer, eine religiöse Minderheit, die sich auf Johannes | |
den Täufer beruft. Im Irak wurden sie bedroht. Hakim Al-Rawi wurde bei | |
einem Überfall angeschossen, die heute 18-jährige Balsam von einer Bombe, | |
die in der Nähe ihres Hauses in Bagdad explodierte, verletzt. | |
Menschenrechtsorganisationen berichten von Morden an Mandäern, von | |
Vergewaltigungen, Verschleppungen und Zwangsbeschneidungen. Im November | |
2007 flohen die Al-Rawis nach Syrien. Insgesamt 1,5 Millionen irakische | |
Flüchtlinge strandeten dort. Die Al-Rawis wollten weiter nach Deutschland, | |
nach München, wo ihre älteste Tochter, mit einem Iraker verheiratet, schon | |
seit einigen Jahren lebt. Und in München gibt es - selten in Deutschland - | |
eine mandäische Community. | |
Erste Station Friedland | |
Ein Jahr ist es an diesem Donnerstag her, dass die Al-Rawis als | |
Kontingentflüchtlinge nach Deutschland kamen. Die Bundesregierung nahm im | |
Rahmen eines EU-Programms 2.500 irakische Flüchtlinge dauerhaft auf, unter | |
ihnen die Al-Rawis. Die Flüchtlinge mussten kein Asylverfahren durchlaufen, | |
und sie erhielten sofort Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis, den Anspruch | |
auf einen Integrationskurs und auf Hartz IV. Wie alle Kontingentflüchtlinge | |
kamen die Al-Rawis zuerst im Durchgangslager Friedland bei Göttingen unter. | |
Nach zwei Wochen wurden sie in ein Übergangswohnheim nach Augsburg | |
gebracht. | |
Jetzt sitzt Hakim Al-Rawi in einem spärlich möblierten Wohnzimmer in | |
München-Sendling, auf der Fensterbank steht einsam ein irakisches Fähnchen, | |
Räucherstäbchen verbreiten Weihrauchduft. Was er jetzt vorhat, nach einem | |
Jahr in Deutschland? Hakim Al-Rawi sucht erst nach deutschen Worten, dann | |
wechselt er ins Arabische. "Wir wollen Deutsch lernen und arbeiten", | |
übersetzt Dhifaf, eine der Töchter. Das hat der Vater schon in Friedland | |
gesagt. Viel Deutsch gelernt hat er seitdem nicht. Mehr als drei Monate | |
warteten die Eltern in Augsburg auf ihren ersten Sprachkurs. | |
Die Tochter übersetzt | |
Seit dem Umzug nach München Mitte April sind zwei Monate vergangen, der | |
neue Kurs fängt erst Ende Juni an. "Sie haben sich darüber sehr geärgert", | |
sagt die 20-Jährige später. "Es ist schwierig für sie, sie wollen sich | |
selbst verständigen." Doch wenn die Nachbarn von unten die Polizei rufen, | |
weil die Schritte der Al-Rawis angeblich zu laut sind, dann geht Dhifaf an | |
die Tür. Und wenn der Vater zur Erstberatung auf ein Amt muss, dann geht | |
die Tochter zum Dolmetschen mit. | |
Hakim Al-Rawi sagt kaum etwas dazu, nur: "Deutsch ist schwer." Er will | |
keine Ansprüche formulieren, er will ankommen, sich integrieren. Hakim | |
Al-Rawi ist ein konservativer Mann, im Irak hat der Elektroingenieur im | |
Ministerium für Verkehr und Kommunikation gearbeitet und gut verdient. Er | |
hat klare Vorstellungen von den Rollen in der Familie. Dass er nun von | |
seiner Tochter abhängig ist, dürfte nicht leicht für ihn sein. | |
Dhifaf und ihre jüngeren Schwestern Balsam und Atyaf haben zügig Deutsch | |
gelernt. Dhifaf managt die Familie. Sie hat lange eine Vierzimmerwohnung in | |
München gesucht, stöbert im Internet nach billigen Möbeln, verhandelt mit | |
der ARGE und hat ihre jüngste Schwester in einer Hauptschule untergebracht. | |
Wie eine Flüchtlingsfamilie auf Hartz IV eine Wohnung gefunden hat? "Ich | |
habe das im Internet gemacht", sagt sie stolz. | |
Die junge Frau hat aus dem Irak eine Hochschulzulassung, inzwischen haben | |
die Behörden sie anerkannt. Dhifaf wird noch einen Deutschkurs machen, | |
danach will sie ein Studienkolleg der Otto Benecke Stiftung in Nürnberg | |
absolvieren. Die Stiftung unterstützt Aussiedler und Flüchtlinge im Auftrag | |
der Bundesregierung unter anderem dabei, ein Studium aufzunehmen. "Danach | |
kann ich studieren", sagt sie. "Ich will Ärztin werden." | |
Nächstes Ziel: Abitur | |
Die Pläne ihrer jüngeren Schwestern sind nicht ganz so klar. Atyaf hat in | |
Syrien die 10. Klasse beendet, Balsam die 11., doch die Abschlüsse wurden | |
nicht anerkannt. Atyaf, die derzeit in die Hauptschule geht, hofft, nach | |
den Ferien in eine Realschule zu wechseln. Balsam hat einen neuen | |
Deutschkurs begonnen. "Ich möchte Abitur machen, aber ich weiß noch nicht, | |
wie das gehen soll", sagt die 18-Jährige. Hilfe von außen hat sie derzeit | |
nicht. In Augsburg hat Ute Caian-Kendi, eine Diakonie-Sozialarbeiterin, die | |
Familie betreut. Sie meint, dass Balsam, wenn sie gut genug Deutsch | |
spricht, über die Otto Benecke Stiftung das Abitur machen könnte. Sie ist | |
sich sicher: "Die Töchter werden ihren Weg gehen. Die wissen, was sie | |
wollen." Das gelte auch für die Eltern. "Aber sie werden es schwerer haben. | |
Das ist fast immer so." | |
Gestern Abend hat sich Dhifaf wieder die Deutschlandfarben ins Gesicht | |
gemalt und auf einem Platz mit Balsam Fußball geguckt. Der Vater versteht | |
das nicht, doch er lässt sie gewähren. Einig sind sie sich in einem: Ihre | |
Zukunft liegt in München, ein Zurück gibt es nicht. "Wir haben im Irak | |
niemanden mehr, alle sind in verschiedene Länder verstreut", sagt Dhifaf. | |
"Oder wir haben sie im Irak verloren." Erst vorletzte Woche seien drei | |
Verwandte bei einem Überfall in Basra erschossen worden. Wenn Hakim Al-Rawi | |
endlich Deutsch kann, will er auch eines tun: sich dafür einsetzen, dass | |
Deutschland mehr Flüchtlinge aus dem Irak aufnimmt. | |
24 Jun 2010 | |
## AUTOREN | |
Sabine am Orde | |
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