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# taz.de -- WM-Bilanz von Volker Finke: "Jeder Erfolg ist lebensgefährlich"
> Der Fußballtrainer Volker Finke über die Zukunft des deutschen Teams, den
> Untergang der Starfußballer, den Triumph des flachhierarchischen
> Teamfußballs und die Zyklen einer Mannschaft.
Bild: "Die Mannschaft scheint in einer Zyklusphase zu sein, die nach oben führ…
taz: Herr Finke, was ist für Sie das Beste an dieser WM?
Volker Finke: Eine WM ist ja immer ein Gradmesser für den Fußball. Es wäre
schade gewesen, wenn sich die Tendenz der Vorrunde erhärtet hätte, dass es
wieder mehr auf Ergebnisfußball rausläuft. Für den Fußball ist es sehr gut,
dass unter die letzten vier dieser WM drei Mannschaften gekommen sind, die
Tore herauskombinieren, die viele individuelle Fähigkeiten auf dem Platz
einbringen und die nicht nur hoffen, dass ihre zwei, drei Superstars in
Form sind.
Die deutsche Mannschaft war dann im Halbfinale gegen Spanien nicht gut
genug, um Tore herauszukombinieren - oder waren die Spanier zu stark?
Sie haben es mental nicht hingekriegt und den Spaniern die Möglichkeit
gegeben, sich in die beste Form des Turniers zu spielen. Schweinsteiger war
sehr gut, aber ein paar junge Spieler eben nicht. Statt etwas zu riskieren,
versuchten sie, möglichst keine Fehler zu machen. Das kann passieren und
ist nicht untypisch für eine junge Mannschaft, dass nach zwei berauschenden
Siegen der Kopf anfängt zu arbeiten. Und Spanien war durch den Wechsel
Pedro für Torres vorne wieder kombinationssicher wie in den besten Tagen.
Eine Erwartung ist, dass die deutsche Mannschaft ihre beste Zeit noch vor
sich hat.
Es gibt Zyklen von Mannschaften. So wie die französische einen Zyklus
hatte, sage ich, dass die deutsche im Grunde 2006 einen Zyklus angefangen
hat, mit Schweinsteiger, Podolski, Mertesacker. Die Mannschaft scheint
jetzt noch in der Phase eines Zyklus zu sein, die nach oben führt.
Kann man ein Nationalteam überhaupt über Jahre zu einem Titel hin aufbauen?
Man kann Leitplanken aufstellen, dass man auf hohem Niveau sein kann. Dafür
muss man offen sein, darf keine Garantien geben und nicht denken, dass
jemand, der jetzt 22 ist, in vier Jahren auf dem Höhepunkt sein wird. Das
kann sein, muss aber nicht. Die Spieler verändern sich jeden Tag. Generell
ist jeder Erfolg lebensgefährlich. Das hat man jetzt wieder bei Italien und
Frankreich gesehen. Da war kein Wettbewerb mehr.
Aber Müller und Özil sind außergewöhnliche Fußballer.
Die Leitplanken müssen so aufgestellt sein, dass auch andere auftauchen
können, genauso wie jetzt Müller und Özil aufgetaucht sind. Man muss den
Mut haben, richtig gute Spieler zu kitzeln, dass es bei ihnen wieder
prickelt, oder sie zu ersetzen durch Spieler, die noch viel hungriger sind.
Aber das ist unglaublich schwierig. Man kann einen Zyklus nicht komplett
verhindern.
Sind wir also nicht der kommende Weltmeister 2014?
Das habe ich eben beantwortet: Wir sind es nicht, weil es dafür zu viele
Unwägbarkeiten und Gefährdungen gibt.
Nach der EM hat der Heldenfußballer nun auch die WM nicht dominiert - auch,
weil die Entfaltung seiner individuellen Qualitäten nicht befördert wurde?
Das trifft aus meiner Sicht für Lionel Messi zu. Wie Argentinien über den
Platz arbeitete, hat dazu geführt, dass er im Spiel gegen Deutschland
anfing, sich von hinten die Bälle zu holen - und dann verliert auch Messi
an Wertigkeit. Die Argentinier und manchmal auch die Brasilianer spielen
immer noch mit Aufgabentrennung. Die einen sind für die Defensive
zuständig, der andere fürs Toreschießen, der dritte fürs Spielen der
entscheidenden Pässe. Im modernen Fußball ist es nun mal so, dass neun
Spieler hinter dem Ball verteidigen. Bei den Argentiniern dagegen haben die
Offensivspieler mit einer gnadenlosen Arroganz keinerlei Defensivarbeit
mitgemacht. Diese WM hat deutlich gemacht, dass es für Teams mit so einem
Fußballverständnis nicht mehr reicht.
Was sagt uns das?
Dass die Fokussierung auf diese Superstars medienmäßig interessant und
marketingmäßig ganz wichtig ist; dass aber auf dem Platz einzelne Spieler
weniger reißen können, als man denkt. Dass eine Mannschaft wie die deutsche
viel erreichen kann, wenn einzelne Fähigkeiten sich ergänzen und alle daran
arbeiten, eine Idee umzusetzen. Özil hat andere Fähigkeiten als
Schweinsteiger, Müller, Klose oder Podolski. Diese Mischung macht es auch
bei Spanien aus. Ein Problem der Spanier war, dass Torres nach vielen
Verletzungen nicht in Topform kam. Das ist eine weitere Erkenntnis dieser
WM. Es ist ein Problem, zu lange auf verletzte Spieler zu warten.
Sie meinen Wayne Rooney?
Rooney ist einer der besten Offensivspieler im Weltfußball, er hatte eine
unglaublich gute Saison bis zu seiner Verletzung, alle haben auf ihn
gewartet. Aber wenn dann so ein Spieler gesundgemeldet wird, dann ist er
eben doch erst bei 80, 85 Prozent. Der internationale Fußball ist so
hochklassig, dass du selbst als Weltstar mit 85 Prozent nicht mehr auf den
Platz zu gehen brauchst. Auch Cristiano Ronaldo und Kaká hatten
Verletzungsprobleme. Drogba musste sogar mit Gips auf den Platz. Man stelle
sich vor, die Deutschen hätten auf Ballack gewartet - nach dem Motto:
Hauptsache, dabei -, da kriegt der Gegner es schon mit der Angst. Aber ein
Weltstar, der nicht topfit ist, kann niemandem Angst machen.
Robben kam auch verletzt zur WM.
Die Niederländer haben eine Hierarchie, die nicht nur auf ein, zwei, drei
Spieler basiert. Die sind längst nicht nur auf Snijder oder Robben
ausgerichtet. Da werden von vielen Positionen Beiträge gebracht, die
wichtig sind.
Die flache Hierarchie ist besser - ist das nach der EM auch die Erkenntnis
der WM?
Leadertypen-Modelle haben auch ihre Vorteile - für eine bestimmte Zeit.
Aber die flache Hierarchie, eine gewisse Grundordnung zu halten, aus der
heraus alle individuellen Besonderheiten sich ergänzen, ist die
Idealvorstellung von Mannschaften. Flache Hierarchien geben die Chance,
dass mehr Spieler nicht nur ihre Talente einbringen können, sondern auch,
dass sich viel mehr Spieler verantwortlich fühlen können für das Ganze. Das
erleben wir jetzt bei der deutschen Mannschaft. Und das sieht bei Spanien
und den Niederlanden ähnlich aus.
Jeder ist sein eigener Star?
Nein, der Tenor lautet: Auch ich bin Führungsspieler; zumindest in meinem
Arbeitsbereich muss ich so gut sein, dass ich da nicht gecoacht zu werden
brauche. Da bin ich derjenige, der andere coacht und sagt: Schieb vor, komm
her, bleib weg!
Und der Kapitän eine Art Klassensprecher?
Philipp Lahm scheint mir eine Kommunikationsdrehscheibe zu sein rund um die
Dinge, die passieren: auf dem Platz, im Training, zwischen den Einheiten.
Das ist eine sehr wertvolle Wahrnehmung der Kapitänsfunktion. Zumindest
beobachte ich das so aus der Ferne.
Manche sagen: Die Niederländer spielen jetzt deutsch, die Deutschen wie die
Niederlande.
Bei den Deutschen ist etwas passiert. Das ist nicht mehr: zusammenziehen,
warten, Fehler des Gegners provozieren, dann mit schnellen, einfachen
Bällen in die gegnerische Hälfte. Wir spielen im Moment auf Ballbesitz, und
es gelingt - außer gegen Spanien - das Umschalten: Aus Ballbesitz heraus
mit Temposteigerung schnell in die Offensive und zu Torchancen zu kommen.
Und diese Mannschaft hatte bis zum Halbfinale keine Angst, war in der Lage,
jederzeit richtig nachzuschieben, und kriegte dadurch ganz viele zweite
Bälle. Ich meine: Wir hatten drei herausgespielte Tore gegen Argentinien.
Das ist außergewöhnlich.
Die Schönheit des deutschen Spiels entfaltet sich aber nicht in spanischen
Ballpassagen, sondern in Tempokontern mit zwei, drei Pässen?
Das sehe ich etwas anders. Ich denke, dass sie in der Spiel-Eröffnung im
Vergleich zu anderen deutschen Nationalmannschaften ganz selten lange Bälle
spielen, sondern dass viele Bälle durchs erste Loch, durchs zweite Loch
gespielt werden. Und die multikulturelle Dimension bereichert die
Mannschaft.
Özil spielt doch nicht so, weil seine Vorfahren aus der Türkei kommen.
Nein, nein, nein. Aber es ist kein Geheimnis, dass sehr viel Fußball und
Straßenfußball gespielt wird in Kreisen der zweiten, dritten Generation der
Menschen, die in die reicheren Länder kamen, weil es Phasen gab, in denen
man dort Arbeitskräfte brauchte. Ich erinnere mich, als unser Blick nach
der WM 1998 rüber nach Frankreich ging und wir irgendwann sagten: Das kann
doch nicht nur an den Kolonien liegen.
Und dann?
Dann kamen wir drauf, was Frankreich von 1988 bis 1998 für Grundlagen
gelegt hatte. Da waren die öffentlich unterstützten Fußballzentren. Aber
sie hatten sich auch bestimmte Stadtteile von Marseille erschlossen, in
denen mehr Straßenfußball gespielt wurde als in bürgerlichen Kreisen. Wir
haben alles viel später gemacht, aber in den letzten zehn Jahren ist der
Anteil der sogenannten Gastarbeiterkinder bei uns viel größer geworden. Und
nun haben wir das Ergebnis.
9 Jul 2010
## AUTOREN
Peter Unfried
## TAGS
Vuvuzela
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