# taz.de -- Häkeln im Maßregelvollzug: Ein Leben, das am Faden hängt | |
> „Ich will dich ficken", hat Alfred Stief zu einer Frau gesagt und ihr an | |
> die Brust gefasst. Deswegen landet er im Maßregelvollzug. Und häkelt | |
> Menschen, Tiere, Teppiche. 700 Werke. | |
Bild: Alfred Stief häkelt Hüte, die oben offen sind, damit das Denken frei bl… | |
Alfred Stief hat das Sprechen eingestellt. Er könnte es noch, trotz | |
Kehlkopfoperation. Warum? Wenn man nicht spricht, braucht man sich nicht zu | |
ärgern. Er schreibt diese Antwort so auf einen Zettel: „Dan Brauchd man | |
sich nicht Ergren.“ Er schreibt, wie ihm die Buchstaben kommen. Es ist | |
seine Wahrheit, denn Stief saß fast zwanzig Jahre im Maßregelvollzug für | |
etwas, was er gesagt hatte. In der Forensik landen Straftäter, die nicht | |
strafmündig sind. | |
In der Betreffzeile von Stiefs Strafakte steht: "Versuchte Vergewaltigung". | |
Er hatte "ich will dich ficken" zu einer Frau gesagt und ihr an die Brust | |
gefasst. Als die Frau ihn abwies und die Tür hinter sich schloss, versuchte | |
er zuerst über die Nachbarwohnung und dann durch den Keller zu ihr zu | |
gelangen. In der Zwischenzeit holte die Frau Hilfe. Am 29. Mai 1989 in | |
Recklinghausen war das. 21 Uhr. Stiefs Alkoholpegel zur Tatzeit: 2,14 | |
Promille. Ein Sexualdelikt wird ihm vorgeworfen - ob es tatsächlich eins | |
ist, wird nie juristisch geklärt. | |
Stief ist ein Sonderling. Nicht ganz klar im Kopf, sagen Leute, die mit ihm | |
zu tun haben. "Geistig behindert", nachdem er als Kind Opfer eines | |
Verkehrsunfalls wurde, schreibt der Bruder in einem Brief. Und die große | |
Hilfsstrafkammer Recklinghausen des Landgerichts Bochum, die 1989 nach der | |
Tat über Stief befindet, führt an, dass eine Geistesschwäche, eine | |
Beziehungsschwäche sowie eine Alkoholisierung zur Tatzeit vorlag. Sie sagt | |
auch, dass nicht klar ist, ob er schuldfähig ist. Das Gericht ordnet eine | |
Bewährung an und legt fest, dass Stief in der Zeit einen Entzug machen | |
muss. Weil sich jedoch kein Therapieplatz in einer Entzugsklinik findet, | |
wird er im August 1990 in das Westfälische Zentrum für Forensische | |
Psychiatrie Lippstadt-Eickelborn gebracht. Haus 44. Maßregelvollzug. Ein | |
weiß gestrichener Altbau mit hohem Zaun drumherum. | |
Stief, der früher auf dem Bau gearbeitet hat, kann etwas, das selten von | |
Männern gemacht wird: Er häkelt. In der Forensik wird es zu seiner | |
Hauptbeschäftigung. Zunächst häkelt er mit Bindfaden, weil etwas anderes | |
schwer zu kriegen ist. Er häkelt Hüte, die oben offen sind, damit das | |
Denken frei bleibt, wie er sagt. Er häkelt Kannen, Becher, Schubkarren und | |
schwere Bildteppiche. Er häkelt Köpfe, die die Zunge rausstrecken. Er | |
häkelt archaisch anmutende Figuren und Tiere, deren Penisse sich aus- und | |
einfahren lassen. Er häkelt Häuser, die wie Gefängnisse aussehen und | |
vollgestopft sind mit Puppen. Eine Kunsttherapeutin sorgt dafür, dass seine | |
Objekte und Teppiche nicht verloren gehen. Outsider-Kunst wird das genannt, | |
was Stief macht. Oder Art Brut. Ungefähr 700 Werke entstehen in der Zeit, | |
in der Stief eingesperrt ist. 70 Arbeiten sind diesen Sommer in der | |
Kunsthalle in Recklinghausen im Rahmen der Ruhr 2010 ausgestellt. | |
Alle paar Jahre wird Stiefs weitere Unterbringung im Maßregelvollzugs | |
gerichtlich überprüft. Die Gutachter, die die Richter befragen, können | |
nicht garantieren, dass Stief – wenn er nicht begrenzt wird – doch wieder | |
übergriffig wird. Es dauert neunzehn Jahre, bis ein Gericht den Grundsatz | |
der Verhältnismäßigkeit bemüht. Erst 2009 kommt er frei. | |
9 Jul 2010 | |
## AUTOREN | |
Waltraud Schwab | |
Waltraud Schwab | |
## TAGS | |
Sicherungsverwahrung | |
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