# taz.de -- Debatte Primarschule: Hamburg bleibt sitzen | |
> Direkte Demokratie heißt im Fall des Schulstreits in der Hansestadt: Die | |
> Privilegierten bestimmen, wer auch künftig ausgeschlossen sein soll. Das | |
> ist der falsche Weg. | |
Bild: Länger gemeinsam zu lernen kann helfen, die sozialen Ungleichheiten zu n… | |
Eine feine Sache, so ein Volksentscheid. Wirkliche, gelebte Demokratie - | |
eben weil sie direkt wirkt, sagen viele. Was das aber in Wirklichkeit | |
bedeuten kann, zeigte sich am Sonntag in Hamburg. Dessen Bürger sollten | |
darüber entscheiden, ob die Kinder der Stadt in Zukunft vier oder sechs | |
Jahre gemeinsam lernen. Was herauskam: Das Bildungsbürgertum vereinbarte | |
mit sich selbst, dass jene, die nicht dazu gehörten, weiterhin eine | |
Möglichkeit verwehrt bleibt, ihren Bildungsrückstand etwas aufzuholen und | |
ihre Startchance ein wenig zu verbessern. | |
Hamburg hat in Sachen sinnvoller Schulreform in Deutschland seit langem die | |
Nase vorn. Manche schulpolitische Neuerung nahm in Hamburg ihren Ausgang: | |
ein starker Ausbau der Gesamtschulen, die Zusammenführung von Haupt- und | |
Realschulen zu integrierten Haupt- und Realschulen, die Integration | |
behinderter Schüler in Regelklassen und die Etablierung eines empirisch | |
fundierten Schulmonitoring schon 1995. | |
Auch aktuell nimmt Hamburg eine Vorreiterrolle ein bei den Bemühungen, ein | |
gerechteres Schulsystem zu etablieren. So wurde eine deutliche Reduzierung | |
von Klassenwiederholungen ("Sitzenbleiben") und Abschulungen anvisiert, ein | |
Zwei-Säulen-Modell zum Abitur beschlossen, bei dem es nur noch das | |
Gymnasium und die Stadtteilschule geben soll. Zudem sollte auf Initiative | |
des schwarz-grünen Senats das Elternwahlrecht abgeschafft und die | |
Grundschule um zwei Jahre verlängert werden (Primarschule). | |
Die heutige Aufteilung der Schüler auf unterschiedliche Schulformen nach | |
einer nur vierjährigen gemeinsamen Grundschulzeit ist im internationalen | |
Vergleich nahezu einzigartig. Nicht nur die Vereinten Nationen kritisieren | |
den deutschen Sonderweg als sozial selektiv. Mit der Verlängerung der | |
gemeinsamen Grundschulzeit in der neuen Primarschule wollte der | |
schwarz-grüne Senat den Weg in Richtung eines gerechteren Schulsystems | |
beschreiten. | |
Wir wissen aus der Forschung, dass Kinder nach der Grundschule sozial | |
selektiv auf die weiterführenden Schulen überwiesen werden. Auch bei | |
gleicher Leistung sind Kinder aus höheren Schichten viereinhalb Mal | |
häufiger auf dem Gymnasium vertreten als Kinder aus bildungsfernen | |
Schichten. Eltern aus höheren Schichten wissen um die Sortierfunktion des | |
Schulsystems. Sie wissen, dass das Abitur ein entscheidender Schlüssel für | |
die optimale Nutzung von Lebenschancen ist. | |
Mit einer um zwei Jahre verlängerten Grundschulzeit kann man die soziale | |
Abhängigkeit des Gymnasialbesuchs nicht ganz aufheben. Aber ein Stück weit | |
kann die verlängerte gemeinsame Lernzeit helfen, soziale Ungleichheiten zu | |
nivellieren. So zeigte sich beim letzen Bundesländervergleich des Instituts | |
zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB), dass die soziale | |
Abhängigkeit des Gymnasialbesuchs in Brandenburg und Berlin am geringsten | |
ist. Dies sind die beiden Bundesländer, die eine sechsjährige Grundschule | |
haben. | |
Die Verlängerung der Grundschulzeit sollte also vor allem Kindern aus | |
bildungsfernen Schichten helfen, das Schulsystem erfolgreich zu durchlaufen | |
und dadurch ihre Chancen auf sozialen Aufstieg zu verbessern. Für | |
bildungsnahe Eltern bedeutet die Verlängerung der Grundschulzeit indessen, | |
dass ihre Kinder zwei Jahre länger mit den Schmuddelkindern in eine Klasse | |
gehen müssen - und das wollen sie um keinen Preis. | |
Seit Gründung der Bundesrepublik wurde immer wieder um das "richtige" | |
Schulsystem gestritten, aber selten mit so harten Bandagen. Und das, | |
obgleich sich alle in der Hamburger Bürgerschaft vertretenen Parteien | |
hinter die Primarschulpläne des Senats gestellt haben. Dieser | |
parteiübergreifende Konsens ist in Deutschland bislang einzigartig: Einen | |
kurzen Augenblick lang sah es tatsächlich so aus, als sei der alte | |
ideologische Graben in der Frage des längeren gemeinsamen Lernens zumindest | |
in Hamburg überwunden. | |
Doch der von Schwarz-Grün geplanten Primarschulreform stellte sich umgehend | |
die neu gegründete Volksinitiative "Wir wollen lernen" entgegen. Durch ihr | |
offensives Auftreten konnte sie den Senat dazu zu bewegen, das im neuen | |
Schulgesetz abgeschaffte Elternwahlrecht wiederherzustellen. Denn in der | |
Abschaffung des Elternwahlrechts vermutete der Senat die wesentliche | |
Ursache für die überraschend große Zustimmung zur Beantragung des | |
Volksentscheids über die Primarschulreform. Der Senat versuchte noch, den | |
Konflikt mit der Volksinitiative zu entschärfen und einen für beide Seiten | |
akzeptablen Kompromiss zu finden. Dies scheiterte nach fünf erfolglosen | |
Verhandlungsrunden, so dass am Ende nur noch der Volksentscheid blieb. | |
Durch den Volksentscheid wurde nun ein wichtiger Teil des Schwarz-Grünen | |
Schulreformprojekts gekippt -- die Primarschule. | |
Wer aber hat darüber entschieden, dass es bei einer frühen Trennung der | |
Schüler bleibt? Eine Gruppe kann man bei dieser Frage schon einmal | |
ausschließen: Personen ohne deutsche Staatsbürgerschaft durften beim | |
Hamburger Volksentscheid nicht abstimmen. Allerdings besitzen circa 15 | |
Prozent aller Schüler auf Hamburgs Schulen nicht die deutsche | |
Staatsbürgerschaft. Es wurde also eine ganze Bevölkerungsgruppe, deren | |
Kinder direkt von der Reform betroffen wären, von der Teilnahme an der | |
Entscheidung ausgeschlossen.Gerade diese Kinder hätten von der Verlängerung | |
der Grundschulzeit wohl am meisten profitiert. | |
Zudem unterschied sich die Wahlbeteiligung der Wahlberechtigten in den 100 | |
Hamburger Stadtteilen sehr stark. In Billbrook nahmen nur 10 Prozent der | |
Stimmberechtigten ihr Wahlrecht wahr. Dieser Stadtteil hat den höchsten | |
Anteil von Hartz IV-Beziehern. In Nienstedten gaben hingegen 55 Prozent | |
ihre Stimme ab; Nienstedten ist der Stadtteil mit dem höchsten | |
durchschnittlichen Einkommen. Dieses Bild zeigt sich für die gesamte Stadt. | |
In den Stadtteilen mit einer hohen Arbeitslosenquote bzw. mit einem hohen | |
Anteil von Hartz-IV-Empfängern, wie Veddel, Wilhelmsburg und Harburg, war | |
die Wahlbeteiligung extrem niedrig. In den gutbürgerlichen Stadtteilen mit | |
einem sehr hohen durchschnittlichen Einkommen, wie Blankenese, Othmarschen | |
und Wellingsbüttel, war die Wahlbeteiligung dagegen am höchsten. Weiter | |
fällt auf, dass in den Stadteilen mit einem hohen Anteil von über | |
65-jährigen die Wahlbeteiligung ebenfalls besonders hoch lag. | |
Überraschenderweise lässt sich kein Zusammenhang zwischen dem Anteil der | |
Kinder in einem Stadtteil und der Wahlbeteiligung feststellen. Direkt | |
Betroffene nahmen also ihr Wahlrecht keineswegs überdurchschnittlich häufig | |
wahr. | |
Wer entschied nun also über das Schicksal der Primarschule? Nicht | |
diejenigen, deren Kinder wohl am meisten von der Reform profitiert hätten – | |
denn die blieben der Abstimmung zu großen Teilen fern. Offenbar ist es den | |
Befürwortern der Primarschule nicht gelungen, diese Gruppe zu erreichen. | |
Die Entscheidung über die Ablehnung der Primarschule wurde also im | |
Wesentlichen durch sozial Bessergestellte beschlossen. | |
Der Hamburger Volksentscheid zeigt einen neuen Aspekt von | |
Bildungsungleichheit auf. Bekannt ist, dass Kinder aus bildungsfernen | |
Schichten in ihrer Schullaufbahn kaum auf Unterstützung durch ihre Eltern | |
zurückgreifen können. Hinzu kommt nun aber, dass ihre Eltern nicht einmal | |
für ein gerechteres Schulsystem mit ihrer Stimme eintreten, wenn sie dazu | |
die Gelegenheit haben. | |
Es ist die Stärke der repräsentativen Demokratie, dass die Interessen von | |
Minderheiten und sozial Schwachen geschützt werden. Wie wir unser | |
Schulsystem gestalten, ist Frage des Gemeinwohls. Lassen wir über das | |
Schulsystem in einem Volksentscheid abstimmen, ist dieses Gemeinwohl | |
faktisch jenen ausgeliefert, die ihre Interessen zu schützen in der Lage | |
sind. Hamburg hat gezeigt, dass bei einem Volksentscheid die Interessen der | |
weniger Privilegierten übergangen werden. Auch wenn bildungsferne Schichten | |
sich nicht darüber im Klaren sind, was das Beste für ihre Kinder ist, muss | |
es Aufgabe der Politik sein, sich gerade um diese Kinder zu kümmern und | |
eine offenkundig ungerechte Situation endlich zu ändern. | |
20 Jul 2010 | |
## AUTOREN | |
B. Edelstein | |
M. Helbig | |
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