# taz.de -- Direkte Demokratie: Öfter mal das Volk befragen | |
> Über konkrete Sachfragen lassen sich Bürger für Politik interessieren, | |
> sagen Experten. Grüne und SPD haben das schon begriffen und gehen in die | |
> Offensive. | |
Bild: Politikverdrossenheit ade? Schüler werben für die Schulreform. | |
BERLIN taz | Wenige Tage nach dem verlorenen Volksentscheid sitzt der Frust | |
über die verhinderte Einführung der sechsjährigen Primarschule tief. "Die | |
Bildungspolitik wird um Jahre zurückgeworfen", klagt beispielsweise Sigrid | |
Strauß, stellvertretende Vorsitzende der Gewerkschaft Erziehung und | |
Wissenschaft (GEW) in Hamburg. | |
Doch seit Sonntag steht für die Befürworter der Schulreform - und nicht nur | |
für sie - eine weitere Frage im Raum: Wie geht man künftig mit | |
Volksentscheiden um? Jetzt, nachdem in Hamburg eine Elite über die | |
Bildungschancen aller Schülerinnen und Schüler entscheiden konnte, weil | |
bildungs- und politikfernere, arme Familien der Abstimmung | |
überdurchschnittlich häufig ferngeblieben sind? Oder sie - mangels | |
deutschen Passes - nicht wählen durften? | |
In die Offensive gehen | |
Auf Seiten von Grünen und SPD lautete das Motto am Dienstag: in die | |
Offensive gehen. Grünen-Fraktionschef Jürgen Trittin und Grünen-Vorsitzende | |
Claudia Roth erneuerten ihre Forderung nach der Einführung von | |
Volksentscheiden auf Bundesebene. "Schwarz-Gelb sollte die Pläne für eine | |
Laufzeitverlängerung von Atomkraftwerken zur Abstimmung stellen", sagte | |
Roth und stellt klar: "Man kann nicht nur dann etwas gut finden, wenn man | |
gewinnt." Auch SPD-Generalsekretärin Andrea Nahles erinnerte an das | |
Engagement der SPD für mehr Bürgerbeteiligung: 2002 brachte Rot-Grün einen | |
Gesetzentwurf für Volksentscheide auf Bundesebene in den Bundestag ein, der | |
eine Zweidrittelmehrheit gebraucht hätte, doch am Widerstand der Union | |
gescheitert ist. | |
Völlig richtig findet den Ruf nach mehr direkter Demokratie auch Otmar | |
Jung, der an der Freien Universität Berlin zu direkter Demokratie forscht. | |
Jung tritt für bundesweite Volksentscheide ein. Und er ist auch dafür, die | |
Bürger, wie es in Deutschland bisher nicht möglich ist, über Finanzen, also | |
Steuerpolitik und den Haushalt, abstimmen zu lassen. | |
Für Jung liegt das Problem in Hamburg auf einer anderen Ebene: Vor allem | |
die dortigen Grünen hätten nicht verstanden, wie man mit diesem Mehr an | |
direkter Demokratie umgehen müsse. Dabei waren sie maßgeblich beteiligt | |
gewesen, die Hürden für Volksentscheide zu senken. "Mann kann bei | |
erweiterten Mitspracherechten der Bürger keine repräsentativ-demokratisch | |
geprägte Politik mehr machen, die versucht, Entscheidungen zu oktroyieren." | |
Jung kritisiert unter anderem, dass die Hamburger Schulsenatorin Christa | |
Goetsch (Grüne) zu spät mit den Reformgegnern das Gespräch gesucht habe, | |
dass unter Zeitdruck mit sogenannten Starterschulen erste Fakten geschaffen | |
worden seien und ein Minderheitenangebot als Ventil für die Reformgegner | |
gefehlt habe. "Das hat psychologisch die ganze Debatte geprägt." | |
Mit Selbstkritik spart auch GEW-Vize Sigrid Strauß nicht, die in den armen | |
Stadtteilen Hamburgs von Tür zu Tür gegangen ist und für die Reform | |
geworben hat. "Wir haben trotzdem mit zu wenig Leuten geredet." Für Strauß | |
kann die Lehre aus dem Debakel auch nicht heißen: Volksentscheide wieder | |
einschränken. "Es ist vielmehr klar geworden, wie viel Arbeit auf uns | |
zukommt, wenn wir alle ins Boot holen wollen." Es sind die Mühen der | |
Ebenen: Will man mehr politische Debatte, Mitbestimmungsmöglichkeiten und | |
auch soziale Integration politikferner Bürger, müsse man eine permanente | |
Bürgerbegleitung betreiben und Volksentscheide häufiger abhalten, sagt | |
Strauß. | |
Auf diesen Effekt der Routine setzt auch Theo Schiller, | |
Politikwissenschaftler an der Philipps-Universität Marburg und Leiter der | |
Forschungsstelle Bürgerbeteiligung und Direkte Demokratie. "Nur so können | |
sie Bürger langfristig wieder für Politik interessieren. Über konkrete | |
Sachfragen." Politikverdrossenheit und niedrige Wahlbeteiligungen entstehen | |
für ihn hingegen vor allem durch das Gefühl des Einzelnen, auf die | |
parlamentarische Politik keinen Einfluss mehr zu haben und mit | |
unübersichtlichen Programmen und zu viel personalisierter Politik | |
konfrontiert zu werden. | |
Dass mit wachsenden Partizipationsmöglichkeiten auch das politische | |
Interesse der Bürger steigt, bestätigt auch Stefan Voigt, Direktor des | |
Instituts für Recht und Ökonomik in Hamburg. Mit jeder Volksbefragung gebe | |
es mehr Menschen, die sich regelmäßig mit anderen über Politik | |
austauschten. Allerdings entstehe dadurch eher weniger Vertrauen in die | |
Volksvertreter. Weil den Menschen eher auffalle, "was alles schiefläuft". | |
Kein Privileg der Reichen | |
Auch dass bei Volksentscheiden, wie in Hamburg, immer die wirtschaftlich | |
potenteren Akteure gewännen, stimme nicht, sagt Schiller. Dafür sprächen | |
unter anderem das Votum der Bürger bei der Schließung des Flughafens | |
Berlin-Tempelhof, der gerade durchgesetzte, strengere Nichtraucherschutz in | |
Bayern und die Entscheidung Freiburger Bürger, darunter viele sozial | |
schwache Mieter, die im Jahr 2006 dem Verkauf städtischen Wohneigentums | |
einen Riegel vorgeschoben haben. | |
Und selbst wenn mal eine Abstimmung im Sinne progressiver Bürger verloren | |
gehe, wichtig seien die öffentlich geführten Kontroversen, betont Schiller. | |
"Das ist das Produktivste, was einer Demokratie passieren kann." | |
Sachverhalte müssten dann erklärt werden und Parlamentarier könnten nicht | |
so einfach durchregieren, sondern stünden unter Rechtfertigungszwang. | |
Gefahren, dass die Demokratie durch Volksentscheide etwa von rechten | |
Kräften bedroht werden könnte, sehen Schiller und Jung nicht. "Anders als | |
in der Schweiz werden minderheitenfeindliche Volksbegehren oder der Ruf | |
nach Todesstrafe bei uns durch eine frühzeitige Kontrolle der Rechts- und | |
Verfassungsmäßigkeit ausgebremst", erläutert Schiller. | |
Jenseits des Ausblicks, in Zukunft für die direkte Demokratie noch mehr auf | |
der Straße ackern zu müssen, gibt es auch Verbesserungsvorschläge, die | |
kurzfristig umsetzbar sind. "Hamburg hat gezeigt, dass man für Transparenz | |
im Finanzierungsbereich sorgen muss", sagt Schiller. Akteure, die | |
Volksentscheide organisierten, sollen künftig offenlegen, woher ihre Gelder | |
stammten, fordern Strauß, Roth, Jung, Schiller und auch die Initiative Mehr | |
Demokratie, die sich für Volksentscheide engagiert. Auch eine Obergrenze, | |
die festlegt, wie viele Mittel zur Mobilisierung für eine Abstimmung | |
eingesetzt werden dürfen, hält Schiller für eine Überlegung wert. In | |
Hamburg gab es beides nicht. Die Finanzquellen der Schulreformgegner von | |
"Wir wollen lernen" liegen nach wie vor im Dunkeln. | |
21 Jul 2010 | |
## AUTOREN | |
E. Völpel | |
K. Strohmaier | |
## TAGS | |
Bayern | |
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