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# taz.de -- Nach dem Tod von Dennis J.: Die Allianz der acht Kugeln
> In Berlin hat ein Polizist einen jungen Kriminellen erschossen. Nach dem
> milden Urteil für den Beamten finden Autonome, Migranten und Ex-Gangster
> zusammen.
Bild: Nach der Urteilsverkündung kommt es zu Tumulten. Die Polizei muss eingre…
BERLIN taz | Dennis J. aus Berlin-Neukölln hatte mit Politik nichts zu tun.
Der 26-Jährige war ein Kleinkrimineller. Jetzt ist er tot - erschossen von
einem Polizisten. Seither gärt es in Neukölln. Auf einer Demonstration in
Berlin ist sein Foto in einer Reihe mit den autonomen Politaktivisten Carlo
Giuliani und Alexandros Grigoropoulos aufgetaucht. Die wurden in Italien
und Griechenland bei Protesten von Polizisten erschossen. In Dennis J.s
Namen sind auch die Fensterscheiben von Banken eingeworfen worden.
Die Polizei vermutet, dass die Scheibeneinwerfer aus der linksautonomen
Szene kommen. Der Freundes- und Bekanntenkreis des Getöteten besteht aus
Migranten und Deutschen, viele davon waren früher kriminell. Diese Milieus
hatten bisher nicht viel miteinander zu tun, doch nach dem Tod von Dennis
J. könnte sich das ändern.
"Früher haben uns die Autonomen nicht interessiert", sagt einer von J.s
Freunden. "Wir haben gedacht, was sind das für Spinner? Jeden 1. Mai
prügeln sie sich mit den Bullen und riskieren dafür Knast. Das war nicht
unser Ding. Wir waren mehr auf Geld fixiert." Dann ist die Sache mit Dennis
passiert. "Wir haben gemerkt, die Autonomen sind wirklich gegen
Polizeigewalt. Wir haben ein gemeinsames Interesse", sagt ein anderer. "Was
mit Dennis passiert ist, darf nicht sein".
Nördlich von Berlin, kurz hinter der Stadtgrenze zu Brandenburg, liegt die
Siedlung Schönfließ. Am Silvesterabend 2008 wartete Dennis J. dort in einem
gestohlenen Jaguar auf seine Freundin. Er war wegen drei Haftbefehlen zur
Fahndung ausgeschrieben. Der 36-jährige Berliner Zivilfahnder Reinhard R.
war hinter ihm her. Aufgrund eines Hinweises war er mit zwei Kollegen nach
Schönfließ geeilt. Dort überschlugen sich die Ereignisse. In 30 Sekunden
feuerte R. sein ganzes Magazin - acht Patronen - auf den jungen Mann im
Auto ab, ein Schuss traf ihn tödlich in die Lunge.
Am 3. Juli wird der Polizeihauptkommissar vom Landgericht Neuruppin wegen
Totschlags in minderschwerem Fall zu zwei Jahren Haft auf Bewährung
verurteilt. Das Gericht verneint eine Notwehrlage, schont den Angeklagten
aber. Als Polizist sei er "extrem haftempfindlich", im Falle einer
Inhaftierung hätte er sich "unter jenen einordnen müssen, die er sonst
verfolgt hat", sagt der Richter.
Bei Urteilsverkündung kam es zu Tumulten. Nicht nur Neuköllner Bekannte des
Getöteten, auch Berliner Linke hatten den Prozess beobachtet. "Selbst für
einen Einbruch kriegt man mehr", brüllte ein Freund von J. Am Abend gingen
dessen Verwandte, Freunde und Bekannte in Neukölln zusammen mit Antifas und
Autonomen auf die Straße. Die Polizei löste die Demonstration rabiat auf.
"Das ist kein Urteil im Namen des Volkes", sagen Js. Freunde. Sie nennen es
"Bullenbonus". "Jeder andere hätte 8 Jahre oder mehr gekriegt", sind sie
sicher. Den Glauben daran, dass vor dem Gesetz sind alle gleich sind,
hätten sie schon lange verloren.
Nach seinem Tod wurden Dennis J. viele Etiketten angehängt:
Kleinkrimineller, Autoknacker, Intensivtäter. Seine Taten reichen von
Fahren ohne Führerschein, Diebstahl, Einbruch, Körperverletzung bis zu
räuberischer Erpressung. Damit ist er kein Einzelfall. In Berlin sind über
500 Intensivtäter registriert, ein Großteil kommt aus Neukölln. Aber anders
als die meisten hat Dennis J. keinen Migrationshintergrund.
"Dennis war mit allen gut Freund", erzählt einer seiner Kumpels. Er spricht
von einem riesigen Bekanntenkreis: Migranten und Deutsche. Viele dieser
Leute, heißt es, waren früher auch kriminell. "Wir geben damit nicht an,
aber das war so." Seit sie selbst Kinder hätten, sei bei den meisten aber
Schluss. "Die Frauen schaffen es, die Männer zu bändigen", erklärt eine
szenekundige Polizistin. Etliche Freunde von J. sitzen aber auch im Knast.
Wieder andere haben Bewährung.
"Wir waren alle keine Engel. In Nord-Neukölln ist das ganz normal", sagt
einer, "wir hatten ja nichts." Dennis J. ist im Rollbergviertel
aufgewachsen. Einst wie jetzt gehört das Viertel zu den Armutsquartieren
Berlins. Einst wie jetzt wohnen dort viele Migranten. Bis er 16 war, hat J.
mit seiner Mutter und Schwester in einer der tristen Betonanlagen gelebt.
111 seiner 160 Taten beging er in dieser Zeit. Vorbild seien die "großen
Araber" gewesen, erinnert sich einer. Gemeint sind junge Männer aus dem
Kiez, die mit illegalen Geschäften zu Geld und schnellen Autos gekommen
waren.
Auf der Straße abhängen, Langeweile, kleine Diebstähle - so fing es an. Bei
der Polizei waren J. und seine Kumpel bekannt wie bunte Hunde. "Natürlich
haben wir zusammengehalten", sagt einer. "Das tun die Bullen doch auch.
Wenn dir vier von fünf Zivilbullen die Fresse polieren, sagt der fünfte
auch nicht gegen die anderen aus." Man könnte es auch so ausdrücken: "Die
Bullen haben uns gehasst wie die Pest und wir sie". Das mit Dennis sei "der
krönende Abschluss".
Schon nach der Beerdigung im Januar 2009 waren mehrere hundert Menschen zum
Berliner Polizeipräsidium gezogen. Nicht alle kannten den Getöteten
persönlich. Auch das linksalternative Nachrichtenportal Indymedia hatte zu
dem Trauermarsch mobilisiert und damit eine Kontroverse in den eigenen
Reihen ausgelöst: Dennis J. sei "ein brutaler Schläger, dem das Wohl und
Leben anderer Menschen egal" gewesen sei, behauptete einer im linken
Chatforum. "Es gibt sicher viele Opfer von Staatsgewalt, die besser für
Protestmärsche geeignet sind." Doch die Fürsprecher überwogen: "Und wenn
Dennis J. nicht politisch genug war, dann lohnt sich Solidarität nicht?",
fragte einer süffisant.
"Es ist geil, wie sich die Autonomen einsetzen", sagt einer von J.s
Freunden. Er meint das ehrlich. Anfangs sei man skeptisch gewesen, wusste
nicht, wie sich verhalten, als es zum Treffen mit den Linken kam. "Früher
gab es keine Berührungspunkte", erzählt er. "Das Einzige, was wir wussten,
war, die Autonomen sind für Ausländer und gegen Nazis." Namen wie Carlos
Giuliani und Halim Dener habe er zuvor noch nie gehört. Jetzt wisse er,
dass Dener ein 16-jähriger Kurde war, der 1994 in Hannover von einem SEK
Beamten erschossen wurde. Oder dass der 23-jährige Giuliani 2001 in Genua
bei den Protesten gegen den G-8-Gipfel durch die Kugel eines Carabiniere
starb.
Am 11. Juni, eine Woche nach dem Urteil gegen den Zivilfahnder R., meldete
der Polizeiticker: Circa 50 Personen seien am Abend durch Neukölln gezogen.
"Teilweise vermummte Unbekannte" hätten bei zwei Banken die Scheiben
eingeworfen. Als die Polizei anrückte, war alles schon vorbei. Zu der
Aktion bekannte sich eine Gruppe namens "carlo giuliani" - per E-Mail. "Das
ist eine Antwort auf die Hinrichtung von Dennis in Schönfließ und auf alle
Morde durch Polizisten."
"Ich war früher nie auf Demos", bekennt einer von J.s Kumpels. "Unsere
Haltung war: In den Knast gehen wir nur wegen Geld." "Dennis Tod", bekennt
der Mann, "hat mich politisiert."
Berlins Polizeipräsident Dieter Glietsch bezeichnet "carlo giuliani" als
linksextremistische Splittergruppe. Diese versuche den Fall J. "für ihre
propagandistischen Zwecke auszunutzen". Davon, dass sich "die" Migranten
mit Autonomen verbündet hätten, könne keine Rede sein. Man habe es hier
nicht mit "den" Migranten, sondern dem ganz persönlichen Freundeskreis des
Dennis J. zu tun. Junge Kriminelle hätten ein angespanntes Verhältnis zur
Polizei, unabhängig von ihrer Herkunft. Wer sich von Polizisten ungerecht
behandelt fühle, solle sich beschweren, "damit wir das aufklären können".
Inzwischen sind Sommerferien. Die Stadt tickt langsamer. "Wollen wir
wetten, dass es bald vorbei ist?", prophezeit ein Beamter, der sich in
Neukölln auskennt. Der Polizeichef teilt die Prognose. "So zu tun, als sei
das hier ein Pulverfass, das jederzeit in die Luft fliegen kann, ist total
daneben."
Für eine abschließende Bewertung ist es indes zu früh. R.s Verteidiger
haben Revision eingelegt. Immerhin könnte es sein, dass der
Bundesgerichtshof das Urteil aufhebt und der Polizeihauptkommissar
freigesprochen wird. Und dann?
Gemessen daran, was 2008 in Athen passiert ist, als der 15-jährige
Alexandros von einem Polizisten erschossen worden ist, "passiert viel zu
wenig", findet einer von J.s Freunden. "Aber bringt das was?" Soll man
dafür die mühsam aufgebaute Existenz und die Familie aufs Spiel setzen?
"Das Herz sagt ja. Aber der Verstand sagt nein." Jeder von ihnen sei heute
doch ein "Einzelkämpfer". "Die Bullen haben Glück. Vor 10, 15 Jahren hätte
man nur einmal durch Nord-Neukölln laufen müssen und ein paar hundert Mann
aus allen Nationen zusammengehabt."
30 Jul 2010
## AUTOREN
Plutonia Plarre
Plutonia Plarre
## TAGS
Schwerpunkt Polizeigewalt und Rassismus
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