# taz.de -- Prozess gegen Polizisten: Die Todesschüsse von Schönfließ | |
> Ende 2008 erschießt ein Polizist den Autoknacker Dennis J. Er feuerte | |
> acht Schüsse auf ihn und sagt heute er habe aus Notwehr gehandelt. | |
> Vermutlich war schon die erste Kugel tödlich. | |
Bild: Familie, Freunde und Bekannte des getöteten Dennis J., etwa 250 Personen… | |
BERLIN taz | Nördlich von Berlin, kurz hinter der Stadtgrenze, liegt | |
Schönfließ: eine blank geputzte Reihenhaussiedlung, in der Kinder auf der | |
Straße spielen, Väter und Mütter im Sportdress zum Joggen losziehen und | |
sich vor den Gartenzäunen Mittelklassewagen an Mittelklassewagen reiht. Die | |
Schilder tragen Namen wie Spitzahornweg, Weidenweg und Feldahornstraße. | |
Nur das Graffito an der Rückwand der Einkaufspassage passt nicht ins Bild. | |
"R.I.P. Jockel" ist in großen schwarzen Buchstaben an die ansonsten | |
blütenweiße Hauswand geschrieben. R.I.P.: Rest In Peace - gewidmet dem | |
26-jährigen Dennis J. aus Berlin-Neukölln von seinen Neuköllner Freunden, | |
die sich auf der Hauswand mit Namen wie Adis, Volle, Stev, David und James | |
verewigt haben. Hätte man diese jungen Männer vor ein paar Jahren gefragt, | |
was Schönfließ ist, sie hätten die Achseln gezuckt. | |
Am Silvesterabend 2008 hat sich das geändert. Seither ist Schönfließ für | |
sie als der Ort gebrandmarkt, an dem sie einen ihrer besten Kumpel verloren | |
haben: Dennis J., Jockel genannt. An dem Abend wurde der mit Haftbefehl | |
gesuchte Autoknacker in der Siedlung von einem Berliner Polizeikommissar, | |
der als Zivilfahnder eingesetzt war, erschossen. Dennis J. hatte in einem | |
gestohlenen Jaguar in einer Parkbucht auf seine Freundin gewartet, die in | |
Schönfließ wohnte. | |
Am Dienstag beginnt vor dem Landgericht Neuruppin der Prozess gegen den | |
36-jährigen Todesschützen Reinhard R. und zwei seiner Kollegen. Es | |
verspricht ein aufsehenerregender Prozess zu werden. Denn anders als die | |
Staatsanwaltschaft, die dem R. Totschlag vorwirft, geht dessen Verteidiger | |
davon aus, sein Mandant müsse freigesprochen werden, weil er in Notwehr | |
oder Nothilfe gehandelt habe. | |
Zusammen mit zwei Kollegen, die auch in Zivil waren, war R. an jenem Abend | |
nach Schönfließ gefahren, weil er den Hinweis bekommen hatte, dass Dennis | |
J. dort auf seine Freundin warte. Insgesamt acht Schüsse - das ganze | |
Magazin also - soll R. auf den jungen Mann abgefeuert haben. Aber schon der | |
erste Schuss, so die Auffassung der Anklagebehörde, war der todbringende. | |
Der Schuss sei aus kürzester Distanz durch das Fenster der Fahrertür des | |
Jaguar abgegeben worden, in dem J. saß. Die anderen Schüsse seien gefallen, | |
als der laut Obduktionsgutachten mit Kokain zugedröhnte Dennis J. - obwohl | |
tödlich verletzt - den Jaguar startete, losfuhr und dabei einen der auf der | |
Straße stehenden Zivilfahnder streifte. J. kam mit dem Jaguar nur 200 Meter | |
weit. Bei der Einkaufspassage, wo heute das Graffito zu sehen ist, prallte | |
der Wagen auf geparkte Autos. Da war der 26-Jährige hinter dem Steuer | |
vermutlich schon tot. | |
Für die Polizisten habe keine Notwehrsituation bestanden, meint die | |
Staatsanwaltschaft. Den zwei mitangeklagten 33- und 59-jährigen Kollegen | |
von R. wirft sie vor, falsche Angaben gemacht zu haben, um eine Bestrafung | |
des Schützen zu verhindern. Nicht mal die Schüsse wollen die beiden wegen | |
des Lärms von Silvesterknallern gehört haben. | |
Kein Gewalttäter | |
Dennis J. ist im Schillerkiez in Berlin-Neukölln groß geworden. In dem | |
Viertel leben viele arme Leute, der Migrantenanteil ist hoch. Auch J. kam | |
aus einfachen Verhältnissen. Seine Eltern trennten sich früh. Er und seine | |
Schwester wuchsen bei der Mutter auf. Dennis halber Freundeskreis habe aus | |
im Kiez geborenen arabischen und türkischen Migranten bestanden, erzählt | |
der gebürtige Araber Walid O. Er betreibt eine Shisha Bar. | |
Dennis J.s Schwester ist mit einem gebürtigen Türken verheiratet, dem | |
29-jährigen Gebäudereiniger Kemal K. "Dass Jockel ein Deutscher war, hat | |
man überhaupt nicht gemerkt", sagt er. | |
Dennis J. war, was man gemeinhin einen Serienstraftäter nennt: Einbrüche, | |
Diebstahl, Nötigung, Sachbeschädigung und immer wieder Fahren ohne | |
Führerschein. Damit fing alles an, erzählt sein Schwager. "Die typische | |
Neuköllner Geschichte halt. Was tut ein 13-, 14-Jähriger, der gelangweilt | |
auf der Straße rumhängt? Er schnappt sich 'ne Karre und fährt damit herum." | |
Immer wieder wurde Dennis J. erwischt. Es folgte die klassische Karriere: | |
Jugendarrestanstalt, Jugendknast, Männerknast. "Er ging immer rein und | |
raus. Wer 160 Straftaten auf dem Kerbholz hat, ist kein Engel. Aber er war | |
kein Gewalttäter", betont sein Schwager. | |
Es gab auch Ruhephasen. Im Jugendknast machte J. eine Ausbildung zum | |
Zweiradmechaniker. "Mopeds waren sein ein und alles", erzählt der Schwager. | |
Danach habe Dennis sogar eine Weile in einem Angestelltenverhältnis als | |
Mechaniker gearbeitet. Ein fanatischer Bastler sei er gewesen, immer habe | |
er seinen Freunden geholfen. Jeden zweiten Roller in Neukölln habe er | |
frisiert. "Er hatte Benzin im Blut." | |
Die schlimmste Strafe für Dennis J. war, dass er aufgrund seiner | |
zahlreichen Vorstrafen wegen Fahrens ohne Fahrerlaubnis keinen Führerschein | |
machen durfte, sagt sein Schwager. Was aber noch fataler war: dass Dennis | |
J., anders als seine Jugendfreunde, nicht den Absprung aus der Kriminalität | |
geschafft habe. Im Gegenteil. Er habe sich mehr und mehr mit den falschen | |
Leuten umgeben. | |
Zu guter Letzt lagen drei Haftbefehle gegen Dennis J. vor. Einer rührte | |
daher, dass er im Sommer 2008 nach einem Einbruchsversuch gegen einen | |
Polizisten Pfefferspray eingesetzt hatte, um der Festnahme zu entgehen. Ein | |
anderes Mal hängte er einen Funkwagen filmreif ab, in dem er bei Rot über | |
Kreuzungen und Bürgersteige raste. Dass er schließlich doch festgenommen | |
wurde, lag daran, dass sein Auto nach mehreren Unfällen liegen blieb. | |
Dienstlicher Übereifer | |
Den Tipp, dass der Gesuchte am Silvesterabend 2008 nach Schönfließ kommen | |
würde, um seine Freundin abzuholen, hatten die Polizisten von deren Familie | |
bekommen. Zu diesem Zeitpunkt hatte R. schon ein paar Wochen persönlich | |
nach J. gefahndet. Die Staatsanwaltschaft geht davon aus, dass der Beamte | |
Dennis J. um jeden Preis habe festnehmen wollen und bei der Schussabgabe | |
auch den Tod des Mannes in Kauf genommen habe. Dieser Eifer sei nicht | |
nachzuvollziehen. Schließlich sei Dennis J. kein Mörder, den die Beamten | |
zum Schutz der Allgemeinheit nicht hätten entkommen lassen dürfen. | |
Irgendwann später, so die Überzeugung der Staatsanwaltschaft, hätte ihn die | |
Polizei schon geschnappt. | |
"Es war eine Hinrichtung", sagt der Freund des Getöteten, Walid O. "Warum | |
schießt der Polizist sein ganzes Magazin leer? Hätte er 16 Schuss drin | |
gehabt, hätte er die auch abgefeuert." | |
Der Hauptangeklagte R. wird in dem Prozess von Rechtsanwalt Walter Venedey | |
vertreten. Venedey residiert in einer Anwaltskanzlei am Berliner Ku'damm. | |
Gregor Gysi, Chef der Linksfraktion im Bundestag, hat sein Büro in | |
derselben Kanzlei. In grauer Vorzeit hat Venedey einen Angehörigen der | |
Bewegung 2. Juni verteidigt. Heute gehört die Ex-RAF-Terroristin Verena | |
Becker zu seinen Mandanten. Man könne ihn durchaus als politisch links und | |
polizeikritisch eingestellt bezeichnen, sagt der Anwalt. Warum vertritt er | |
dann den Todesschützen von Schönfließ? "Das ist keine Frage von Moral, | |
sondern von Recht", sagt Venedey. Sein Mandant habe in Notwehr oder | |
Nothilfe gehandelt. | |
Das ganze Geschehen der Schussabgabe habe sich in 30 Sekunden abgespielt. | |
In dieser Zeit habe der Geschädigte, Dennis J., mit dem Jaguar | |
"unzweifelhaft" drei Fahrmanöver gemacht: vorwärts gegen ein Mäuerchen, | |
rückwärts in einen Erker, wieder vorwärts. Die Zivilfahnder habe J. dabei | |
"in eine lebensgefährdende Situation" gebracht. Dass der erste Schuss der | |
tödliche war, wie die Anklage meint, sei nicht erwiesen, so Venedey. "Eine | |
Reihe von objektiven Spuren" spreche dagegen. Auch die Gutachter seien sich | |
in der Frage uneins. | |
Berlins Polizeipräsident Dieter Glietsch gab nach dem Vorfall zu Protokoll, | |
es sei Sache der Staatsanwaltschaft und Gerichte, den Vorfall zu bewerten. | |
"Aber auch die am besten trainierten Mitarbeiter können in Situationen | |
geraten, in denen sie falsch reagieren." In Glietschs Behörde gibt es | |
Mitarbeiter, die deutlicher werden. Immerhin gilt R. als Spezialist für | |
Festnahmen. "Man wird das Gefühl nicht los, dass da ein Kollege vor lauter | |
Jagdeifer übers Ziel hinausgeschossen ist", sagt ein Beamter. "Nicht | |
auszudenken wäre, wenn er eine offene Rechnung beglichen hätte." | |
Nicht nur bei der Polizei, auch in Schönfließ gehen die Meinungen über den | |
Tod des jungen Autoknackers auseinander. "Hier ist es so wie überall in der | |
Welt", erzählt eine Anwohnerin, die vor ihrem Haus im Liegestuhl in der | |
Sonne liegt. "Es gibt Leute, die sagen: Richtig so. Den Kriminellen muss | |
man es zeigen." Andere, zu denen sich die Anwohnerin zählt, seien | |
überzeugt: "Das war absolut unverhältnismäßig." Auch als Mutter eines | |
Sohnes, der unwesentlich jünger als der Getötete ist, wünsche sie sich, | |
dass der Polizist eine gerechte Strafe bekomme. "Aber die Erfahrung ist ja | |
wohl die, dass bei solchen Prozessen am Ende nichts herauskommt." | |
4 May 2010 | |
## AUTOREN | |
Plutonia Plarre | |
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