# taz.de -- Zuwanderung: Das leere Lager | |
> Immer weniger Menschen durchschreiten das "Tor zur Freiheit" - das | |
> Durchgangslager Friedland. Politiker debattieren nun über die künftige | |
> Nutzung. | |
Bild: Das ist Friedland: Bis heute haben insgesamt fast 4,5 Millionen Menschen … | |
Die Glocke der katholischen Kirche St. Norbert läutet zum Gottesdienst, | |
aber kaum jemand folgt dem Ruf. Nur ein paar ältere Frauen schlurfen an | |
diesem Donnerstagmorgen auf dem Plattenweg zu dem schmucklosen Bau am | |
Grenzdurchgangslager Friedland. Eine zufällige Beobachtung, aber doch | |
bezeichnend: Denn 65 Jahre nach seiner Gründung gehen dem Lager bei | |
Göttingen die Bewohner aus. | |
Immer weniger deutschstämmige Spätaussiedler kommen in der | |
Aufnahmeeinrichtung an. Im ersten Halbjahr 2009 sank ihre Zahl auf etwa 950 | |
und damit auf einen historischen Tiefstand, sagt Lagerleiter Heinrich | |
Hörnschemeyer. Weitere 200 seien im Juli gekommen. Für das gesamte Jahr | |
2010 rechne er allenfalls noch mit gut 2.000 Aussiedlern aus der früheren | |
Sowjetunion. | |
Der Zustrom versiegte kontinuierlich. Trafen im Rekordjahr 1989 etwa | |
400.000 Aussiedler in Friedland ein, waren es 2005 nur noch 35.000 und 2007 | |
knapp 6.000. Den bisherigen Minusrekord gab es im vergangenen Jahr mit etwa | |
3.400 Aussiedlern. Dass die Zahlen so stark sinken, liegt nach Darstellung | |
von Bundes- und niedersächsischer Landesregierung an den Bedingungen im | |
Zuwanderungsgesetz. Es schreibt unter anderem ausreichende | |
Deutschkenntnisse für Einwanderer vor. Einen weiteren Grund sieht der | |
Aussiedlerbeauftragte der Bundesregierung, Christoph Bergner (CDU), im | |
"Fortfall klassischer Aussiedlungsmotive". Die wirtschaftlichen und | |
gesellschaftlichen Bedingungen in den Herkunftsgebieten hätten sich | |
verbessert. | |
Seit dem Frühjahr 2009 war Friedland auch Anlaufstelle für 2.500 irakische | |
Flüchtlinge, die nach und nach in die Bundesrepublik kamen. Die meisten von | |
ihnen sind Christen oder gehören anderen religiösen Minderheiten wie den | |
Mandäern an. UN- und EU-Beamte hatten die zur Aufnahme in Deutschland | |
bestimmten Familien in syrischen und jordanischen Flüchtlingslagern | |
ausgewählt. | |
Die Flüchtlinge durchliefen im Lager Integrationskurse und wurden dann auf | |
die Bundesländer verteilt. Nach Angaben von Lagerleiter Hörnschemeyer | |
hielten sich am Donnerstag nur noch 23 Iraker in der Einrichtung auf. | |
Von den wenigen Aussiedlern, die derzeit noch ankommen, stammen die meisten | |
aus Russland und Kasachstan. Sie bleiben in der Regel nur ein paar Tage und | |
werden dann auf die Bundesländer verteilt. Bei der Unterbringung, | |
Versorgung, Betreuung und Weiterleitung wird die Lagerverwaltung von | |
Wohlfahrtsverbänden und Hilfswerken unterstützt. Spätaussiedler, die | |
Niedersachsen, Bayern und Rheinland-Pfalz zugewiesen werden, können seit | |
2007 an Integrationskursen teilnehmen. | |
Die sinkenden Aussiedlerzahlen haben eine politische Debatte über die | |
zukünftige Nutzung des Lagers angestoßen. Das niedersächsische | |
Landeskabinett habe bereits bei seiner jüngsten Klausurtagung den Auftrag | |
erteilt, Verwendungsmöglichkeiten für das Grenzdurchgangslager zu prüfen, | |
sagt der Sprecher des Innenministeriums, Klaus Engemann. | |
Bereits seit einigen Jahren gibt es in Hannover Pläne für eine | |
zeitgeschichtliche Gedenkstätte in Friedland. Das Innenministerium kündigte | |
schon vor zwei Jahren einen "Ideenwettbewerb" an. Auf dem weitläufigen | |
Lager-Gelände solle dafür kein neues Gebäude errichtet werden. Bereits | |
bestehende Bauwerke wie alte Baracken, die evangelische Holzkirche, die | |
Friedland-Glocke oder das Heimkehrer-Denkmal könnten Bestandteile der | |
Gedenkstätte sein. Viel getan hat sich seither aber nicht. | |
Die britische Armee hatte das Lager unmittelbar nach dem Ende des Zweiten | |
Weltkrieges eingerichtet, um der Flüchtlingsströme Herr zu werden. | |
Friedland, wo drei Besatzungszonen aneinander stießen und es einen Bahnhof | |
sowie eine große Straße gab, bot sich aus Sicht der Alliierten für die | |
Einrichtung eines Auffanglagers an. | |
Über Nacht wurde der Ort zum Anlaufpunkt für Hunderttausende. Schon bis | |
Ende 1945 hatte eine halbe Million Menschen die Lagertore passiert - vor | |
allem Vertriebene aus den ehemaligen Reichsgebieten östlich von Oder und | |
Neiße sowie entlassene Kriegsgefangene. Als erste Behelfsunterkünfte | |
dienten Schweine- und Pferdeställe. | |
Im Oktober 1955 kehrten die letzten 10.000 deutschen Kriegsgefangenen aus | |
der Sowjetunion über Friedland zu ihren Familien zurück. Alte Fotos zeigen | |
die gezeichneten Gesichter und Körper der Entlassenen. Später fanden auch | |
Flüchtlinge und Asylbewerber vorübergehend Aufnahme in Friedland. | |
Rund 3.000 Ungarn, die nach dem gescheiterten Aufstand ihr Land verlassen | |
hatten, erreichten das Lager 1956. In den 60er Jahren kamen verfolgte | |
Pinochet-Gegner aus Chile, später "Boat People" aus Vietnam oder | |
Flüchtlinge aus Albanien. Bis heute haben insgesamt fast 4,5 Millionen | |
Menschen das Lager durchlaufen. "Tor zur Freiheit", nennen es viele | |
Politiker. Kaum vorstellbar, dass sie die symbol- und geschichtsträchtige | |
Stätte einfach schließen werden. | |
30 Jul 2010 | |
## AUTOREN | |
Reimar Paul | |
## TAGS | |
Schwerpunkt Flucht | |
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