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# taz.de -- Protest gegen Stuttgart 21: Täglich ein Schwabenstreich
> Samstag werden wieder Tausende gegen den Abriss des Stuttgarter Bahnhofs
> demonstrieren. Der Bahnhof als Symbol: Die Stuttgarter ärgern sich, dass
> sie niemand ernst nimmt.
Bild: ZehntausENDE gegen Stuttgart 21: Täglich gibt es Protestdemos.
STUTTGART taz | Was finden die Stuttgarter bloß an diesem Bahnhof?
Heruntergekommene Bahngrundstücke, kaputte Datschen - und überall diese
Betonklötze im Blick. Wer mit der Bahn nach Stuttgart reist, wird nun
wahrlich nicht auf Romantik eingestimmt. Im Gegenteil. Und doch scheint
jetzt Romantik gefragt.
In der Landeshauptstadt von Baden-Württemberg ist derzeit nichts mehr, wie
es einmal war. Die Schwaben fühlen sich bedroht und drohen selbst: mit
einem Aufstand. Dies ist die Geschichte einer Volksseele in Aufruhr. Sie
beginnt in den Hochlagen und Vororten Stuttgarts, wo derzeit das
bürgerlich-konservative Milieu in Erschütterung gerät. Und in den
verkifften Studenten-WGs, aus denen Nacht um Nacht Plakate an die
Eckpfeiler des Städtischen gelangen. Und sie beginnt an der Bahnsteigkante
des Stuttgarter Hauptbahnhofes.
Bahntrasse nach Ulm
Das gemeinsame Feindbild, das in diesen Tagen diese unterschiedlichen
Milieus aufmischt, heißt "Stuttgart 21", kurz: S 21. Dahinter steckt das
vielleicht visionärste Baukonzept Europas, sagen manche. Mit Sicherheit das
umstrittenste. Hier, im Herzen von Stuttgart, soll der jetzige Bahnhof
abgerissen werden und ein unterirdischer neuer entstehen. Eine neue
Bahntrasse nach Ulm soll her. Das Herz Europas soll Stuttgart dann werden.
Mit schnellen ICEs nach überall. Über 30 Kilometer lange Tunnel gäbe es
dann, aber auch zehn Jahre Mammutbaustellen, und oben entstünde ein neues
Stadtviertel.
Es ist Mitternacht in Bad Cannstadt, im ältesten Bezirk der Stadt. Die
Wände dieser Wohnung sind schwarz und rot bemalt, es läuft Bob Marley, und
Daniel dreht noch eine Tüte. Immer wieder macht es schnipp und schnapp.
Daniel und seine Freunde, Gärtner, Studenten, Azubis, schneiden
doppelseitiges Klebeband zurecht. Das kleben sie auf hunderte von Flyern
und Plakaten. Und gleich, in einer Stunde, geht es in die Nacht zum
Plakatieren für die Samstagsdemo. Dann, also heute, sollen wieder tausende
kommen. "Diese Schweinerei", sagt Daniel, "das lassen wir mit uns nicht
machen." Doch worum geht es ihm?
"Stuttgart 21" ist eine Chiffre, die erst für den Umbau des Bahnhofs stand,
aber inzwischen für viel mehr steht. Sehr viel mehr. "Uns machen sie die
Kulturklubs dicht, aber für so etwas haben sie Geld", sagt Daniel. Diesen
Satz hört man derzeit von vielen Stuttgartern. Den einen mangelt es hieran,
den anderen daran: "Aber dafür haben sie Geld!"
Seit Monaten gehen deshalb Hunderte und Tausende einmal pro Woche auf die
Straße. "Montagsdemos" nennen sie es, wie die Revolutionäre einer
unterdrückten Gesellschaft. Und ein bisschen ist es auch so.
Mit Sitzblockaden legen sie den Verkehr lahm. Wenn Baumaschinen anrücken,
legen sie sich in den Weg. Die Stadt ist gepflastert mit Protestaufklebern,
Flyern und Plakaten. Seit anderthalb Wochen nun, seit der erste Bauzaun
errichtet wurde, gibt es täglich Demos gegen den drohenden Abriss des
Bahnhofsseitenflügels.
Schreien und kreischen
"Schwabenstreiche" werden sie genannt. Jeden Abend, 19 Uhr, egal wo,
greifen StuttgarterInnen für 60 Sekunden zur Pfeife, zu Trommeln, zu
Kuhglocken und Vuvuzelas. Sie klatschen, schreien, kreischen. Ein sonst so
solides Schwabenland befindet sich im Ausnahmezustand - es ist die Empörung
der Unerhörten.
Denn die Schwaben warnen vor einem Milliardenloch und könnten Recht
behalten. Was 2007 noch 2,8 Milliarden kosten sollte, beziffert die Bahn
heute auf über vier Milliarden. Und wer unabhängig rechnet, kommt auf
weitaus mehr. Mit "mindestens 5,3 Milliarden" veranschlagt der
Bundesrechnungshof das Projekt, plus 3,2 Milliarden für die Neubaustrecke
nach Ulm. "Und wir haben sehr konservativ geschätzt", sagt ein Sprecher.
Andere seriöse Schätzungen gehen noch viel weiter.
Doch nicht nur beim Geld wird schöngeredet, auch bei den Risiken. Im Juli
veröffentlichte die Zeitschrift Stern eine vom Land Baden-Württemberg unter
Verschluss gehaltene Expertise, in der von "Infrastrukturengpässen",
"Fahrzeitverlängerungen" und "Konflikten" mit dem Regionalverkehr die Rede
war.
Dazu kommen stets neue Aufreger. Wie die Geschichte mit Michael Föll. Der
CDU-Wirtschaftsbürgermeister hat sich erst Mitte Juli zum Beiratsmitglied
in dem Abrissunternehmen Wolff & Müller machen lassen, das gerade heute von
der Bahnhofsdemontage profitiert. Der Oberbürgermeister Wolfgang Schuster
(CDU) genehmigte ihm diese Tätigkeit. Auf der Straße macht das keinen guten
Eindruck. Doch wenn am heutigen Samstag Tausende auf die Straße gehen, sind
Föll und Schuster im Urlaub. Auch für ein kurzes Telefonat mit der taz sind
sie nicht zu haben.
Und genau das ist es. Der Bahnhof, schön und gut. Wovon die Schwaben
wirklich genug haben, ist die politische Kultur, die sich mit dem
Mammutprojekt im Ländle verändert hat. Ob der Bagger die Steine einreißt,
ist das eine; ein viel bedeutenderer Riss geht durch die Seele der Stadt.
Denn "Stuttgart 21" steht für eine Politik, die ihren Souverän, das Volk,
vergessen hat.
In ganz Baden-Württemberg sind 58 Prozent der Bevölkerung für einen
Ausstieg aus dem Projekt, ergab Ende 2009 eine Emnid-Umfrage im Auftrag des
BUND. Ob die Ablehnung tatsächlich so groß ist, will der Bürgermeister gar
nicht wissen. In einem offenen Brief, der am Freitag herausging, weist der
Bürgermeister die Forderungen nach einem Moratorium zurück.
Das wird von den GegnerInnen allerdings vehement gefordert. Auch in der SPD
- wie CDU und FDP bislang Fürsprecher des Projekts - bröckelt nun langsam
die Einigkeit. In einem offenen Brief fordern Bezirksräte, Jusos und
Ortsvereinsmitglieder eine Denkpause. Auch sie wollen wissen: Sind die
Bedenken zahlreicher Experten berechtigt? Sind die Finanzpläne, die die
Bahn vorgelegt hat, realistisch?
Ihr sozialdemokratischer Prellbock heißt Wolfgang Drexler. Er ist der
Sprecher des S-21-Projektes - und hat in den letzten Wochen nach eigenen
Aussagen wiederholt Morddrohungen erhalten. Am Telefon und schriftlich.
Auch er weilt derzeit im Urlaub, nimmt aber Telefonate an. "Die
Beteiligungsformen haben in Stuttgart gefehlt. Wir können acht bis zehn
Jahre Nichtinformation nicht mehr einfach nachholen. Die Situation ist
fatal", sagt er. Immerhin, ein wenig Selbstkritik.
Doch er sagt auch: Zurückrudern könne man jetzt nicht mehr. "Die einen
wollen ein Moratorium, die anderen haben Baurecht. Wie wollen Sie da einen
Kompromiss machen?" In Bahnhofsnähe kann sich Drexler nicht mehr sehen
lassen. Und dass der Oberbürgermeister Schuster keine Wahlen mehr gewinnt,
ist hier jedem klar.
"Nie wieder CDU"
Dieses Los hat sich an der Bahnsteigkante entschieden. Hier steht Egon
Hopfenzitz und sagt: "Ich habe mein Leben lang CDU gewählt. Die wähle ich
nie wieder."
Egon Hopfenzitz ist 80 Jahre alt. Und seine Tage verbringt er nur noch mit
Protest. Der Mann, beige Anzugjacke, beige Hose, beige Schuhe und blaues
Hemd, steht auf einem der 17 Gleise des Stuttgarter Kopfbahnhofes. Noch.
Die Gegenwart ist für ihn immer eine Zeitreise. Im Jahr 1950, fünf Jahre
nach dem Zweiten Weltkrieg, begann hier der Weg des Eisenbahners. Von 1981
bis 1994 leitete Hopfenzitz als Chef den Stuttgarter Hauptbahnhof. Heute
ist er einer der erbittertsten Gegner der neuen Großvision. Nur ein
Romantiker?
"Nein", sagt er. "Der neue Bahnhof bringt faktisch keinen Vorteil."
Hopfenzitz ist der Detaillist der Bewegung. Über Fahrplantaktungen und
Abstellgleise, über Gepäcktransport und Auswirkungen auf den Nahverkehr
kann er erzählen. Es gibt tausend Gründe, diesen Kopfbahnhof zu erhalten,
modernisiert und umgestaltet. Viele davon klingen plausibel. Aber
Hopfenzitz sagt auch: "Hier geht es nicht mehr um den Bahnhof, hier geht es
um die Demokratie. Wenn die wirklich abreißen, bin ich beim nächsten
Sitzstreik dabei."
Matthias von Herrmann, 37, Typ solider Schwabe, ist der Obersitzstreiker
und Parkschützer von Stuttgart. Acht Jahre war er bei Greenpeace aktiv,
jetzt soll der anstehende Bahnhofsbau einen Teil des historischen
Schlossparks vernichten. Es sollen 283 Bäume, teils über 200 Jahre alt,
weichen. Nicht mit ihm. Im September gründete er die Initiative, die in
Stuttgart für die Hopfenzitze dieser Stadt nun Blockadetraining und
Ankettungsaktionen organisiert. Seit ihrer Gründung im September 2009 haben
sich bereits 18.000 Menschen den Parkschützern angeschlossen. 1.700 von
ihnen, das hat die Initiative erfasst, sind zu zivilem Ungehorsam bereit.
400 hat von Herrmann schon ausgebildet. "Und das sind nicht nur junge
Leute, sondern auch betagte Damen. Sie sagen: Wer sein Leben lang ruhig
war, muss jetzt auch mal Flagge zeigen."
Vielleicht ist gerade das das Potenzial dieses Schwabenaufstands: "Dies ist
ein zutiefst bürgerlicher Aufstand", sagt von Herrmann. Er sagt es gerne.
Daniel aus der Kifferbude sagt das auch. Und Egon Hopfenzitz sitzt künftig
neben ihm.
6 Aug 2010
## AUTOREN
Martin Kaul
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