# taz.de -- Nachruf: Mit Jesus gegen die orgiastische Impotenz | |
> Der Pfarrer, Drucker, Kommunarde und Sexpol-Revolutionär Wolfgang | |
> Schiesches ist gestorben. Er prägte die linksalternative Bremer Szene der | |
> späten 1960er und 1970er Jahre. Sein langes, wildes und oft verrücktes | |
> Leben lebte er für eine andere Welt. | |
Bild: Von dieser Welt war Schiesche ein Teil: Schüler und Studenten bei einer … | |
Es muss 1967 gewesen sein, da gab es eine aufregende Diskussion in der | |
Kirchengemeinde in Wuppertal, in der ich damals Kindergottesdiensthelfer | |
war: Ein Pastor aus Bremen, Wolfgang Schiesches, berichtete über sein | |
Verständnis von Gemeinde und Seelsorge. Sonntags um zehn Uhr traf man sich | |
da zum Frühstück mit Weißbrot und Marmelade um einen großen Tisch und zum | |
Gespräch. Das war der "Gottesdienst". | |
Er wolle nicht den autoritären Macker spielen, der so tut, als wisse er, | |
was Gott ist und wie die Menschen leben sollen, erklärte der Pastor. Den | |
Talar trug er selten, "zu Beerdigungen etwa, aus Rücksicht auf die alten | |
Leute, die das brauchen". Dass er die angestammten Kirchenchristen mit | |
seiner Art verprellen würde, das wusste er. Er verprellte die zwei Prozent | |
Kirchentreuen, weil er 98 Prozent der Menschen ansprechen wollte. | |
Als ich Schiesches, den alle nur "Wolfgang" nannten, wiedertraf, war er | |
Drucker - und lebte mit einer großen Kommune in einer Bremer Fabriketage. | |
Beinahe hätte er einmal für den Landtag kandidiert - mit der | |
Wählerinitiative der "fahrradeuphorischen Epikuräer". Nun ist er nach einem | |
langen, wilden und oft verrückten Leben im Alter von 78 Jahren gestorben. | |
"Es wird ein Lachen sein" ist der Titel eines Buches, in dem er seine | |
Lebensphilosophie aufgeschrieben hat. Am Freitag findet die förmliche | |
Trauerfeier statt, am Samstag kommen seine alten und jüngeren Freunde in | |
der Diskothek Lila Eule zusammen. | |
Die Lila Eule ist ein Mythos. Was heute wie eine normale, etwas verbaute | |
und für den kommerziellen Blick sicherlich zu kleine Diskothek erscheint, | |
war in den späten 1960er Jahren das kulturrevolutionäre Zentrum in Bremen. | |
Musik wurde da natürlich gemacht und Rudi Dutschke kam bei seinem | |
Bremen-Besuch zur Diskussion "in die Eule". Ein eng bedruckter Flugzettel | |
informierte über das monatliche Programm. Für den 9. September 1968 stand | |
da: "Wolfgang Schiesches, der allbekannte und unbequeme Aufwiegler, spricht | |
über ,Apo und Räteordnung'. Er verlangt eine anständige Diskussion & kein | |
Scheißgelaber". | |
Der 1931 in Königsberg geborene Schiesches war 1964 Pfarrer geworden in dem | |
Neubau-Gebiet Bremen-Huchting. Der Namenspatron seiner Gemeinde - Dietrich | |
Bonhoeffer - war für ihn Programm. "Was mich unablässig bewegt, ist die | |
Frage, wer Christus heute für uns eigentlich ist", hatte Bonhoeffer | |
formuliert - Glaube bedeutete für ihn nicht Religion, sondern tätige | |
Nächstenliebe, für andere da zu sein. Schiesches war für andere da, | |
jedenfalls für die, zu denen die Kirche sonst keinen Draht hat. Damals | |
gehörte übrigens auch das junge Ehepaar Scherf zu seiner Huchtinger | |
Gemeinde. | |
1968 wurde Schiesches Ansprechpartner für radikalisierte Bremer Schüler - | |
eine Universität gab es damals noch nicht - und den Unabhängigen | |
Sozialistischen Schülerbund (USB). Der redegewandte Pfarrer war bald mit | |
Lautsprecher auf der Straße zu hören und bekannte sich "mit ganzem Herzen" | |
zur Apo. | |
Aber die Bewegung überholte ihn. Die Konfirmanden, so berichtet er selbst, | |
haben im Jahr 1970 die bei Schiesches übliche reichlich profane | |
Konfirmationsfeier - großer Tisch, der Pfarrer hält eine Ansprache - | |
abgelehnt und darauf insistiert, dass sie selbst reden dürfen. Das hörte | |
sich dann so an: "Kapital unser, das du bist im Westen, unseren täglichen | |
Umsatz gib uns heute und verlängere unsere Kredite ..." Am Montag danach | |
titelte die Bremer Bild-Zeitung: "Roter Pastor verheizt Kinder". | |
Solche Episoden hat es immer wieder im Leben von Schiesches gegeben. Einmal | |
inszenierte er eine kirchliche Verlobungsfeier für einen "Schülergenossen", | |
bei der er - im Talar - die Gretchenfrage so stellte: "Der schönste Tag im | |
Leben einer Frau ... im weißen Hochzeitskleid ... aber das ist auch der | |
einzige schöne Tag, danach kommt die doppelte Ausbeutung ... sexuelle | |
Zwangsmoral ... Kleinfamilie ... ." Während die Braut ihr feierliches | |
"Ja"-Wort dazu gab, spielte die Orgel die Internationale. | |
"Ich konnte mich vor Lachen kaum halten", berichtet Schiesches in seinem | |
Buch "Es wird ein Lachen sein". Genüsslich erzählt er da auch die | |
Geschichte von dem SPD-Mitglied Gerd Settje, gegen den wegen Hochverrats | |
ermittelt wurde. Das Schreiben der Bundesanwaltschaft wurde 1968 wie eine | |
Trophäe auf die Rückseite eines Programm-Blattes der Lila Eule gedruckt. | |
Was war passiert? Ein christlicher Akademikerkreis in Bremen-Nord hatte den | |
"Organisator" der Lila Eule, das war Gerd Settje, eingeladen, um sich über | |
die Schülerunruhen in Bremen informieren zu lassen. Settje berichtete über | |
die Ziele der Apo. Die Akademiker seien "entsetzt" gewesen, schreibt | |
Schiesches. | |
Da habe Settje einen drauf gesattelt und erklärt, die Schüler wollten sich | |
"vor die auslaufenden Schiffe werfen", er redete von der | |
"Internationalisierung des Konfliktes" und natürlich von der "bewaffneten | |
Revolution", die die Schüler des USB (damals 16 Mitglieder) planen würden. | |
Die Akademiker hätten die Sache ernst genommen, berichtet Schiesches, und | |
gemeldet. Die CDU stellte im Bundestag eine Anfrage, ob die Bundesregierung | |
denn von der Lila Eule Kenntnis habe, und die Justiz ermittelte wegen | |
Landesverrats gegen den Disko-Betreiber. | |
Schiesches hatte einen Kindergarten in der Gemeinde gegründet. Die | |
studierten Pädagogen, die er dafür einstellte, brachten eine ganz andere | |
Kultur mit in die Gemeinde. Eines Tages, so berichtete Schiesches später, | |
"erschien die gesamte Kindergartengruppe in meinem Wohnzimmer" und | |
verkündete: "Wir haben den Kommunistischen Bund Bremens gegründet." | |
Das war der Anfang dessen, was Schiesches - nachdem er sich anfangs "in die | |
Schar der Sympathisanten eingeordnet" hatte - bald als "K-Gruppen-Seuche" | |
vehement ablehnte. Auch wegen einer besonderen Erfahrung: "Sechsmal | |
erklärten die Führer der Arbeiterklasse dem kirchlichen Disziplinargericht | |
gleichlautend: ,Ich habe den Pastor mit Elisabeth nackt im Bett gesehen - | |
zu einem Zeitpunkt, wo sie noch nicht verheiratet waren'." Bei solchen | |
Belastungszeugen hatte es die Kirche leicht, Schiesches zu suspendieren. | |
Elisabeth war die Studentin, die später die drei Kinder aus Schiesches | |
erster Ehe großzog. | |
Schiesches geriet auch intellektuell in den Strudel der Studentenbewegung - | |
allerdings ihrer antiautoritären Strömung. Er befasste sich mit Wilhelm | |
Reich, seiner Orgasmustheorie und den "Charakterpanzerungen", als deren | |
Ursache er die "patriarchalische Verkrüppelung" ansah. Schiesches, der | |
Ostpreuße, wird auch von seinen Freunden als durchaus autoritärer Patriarch | |
geschildert, aber in seinen Pamphleten konnte er herrlich kritisch über | |
autoritäre Ordnungen und die Männer herziehen. | |
Einige Mitglieder der Kommune orientierten sich an Otto Mühl, dem Wiener | |
Patriarchen und Gründer der AAO-Sexkommune. "Die Familie ist die Brutstätte | |
aller Geisteskrankheiten" und die freie Sexualität sollte diese überwinden | |
helfen - auf diese Weisheit Wilhelm Reichs bezog sich Otto Mühl. Der | |
Konflikt in der Bremer Kommune eskalierte, und Schiesches mauerte | |
irgendwann einen "antifaschistischen Schutzwall", wie er das nannte, durch | |
die Fabriketage: Die Kommune war gespalten in die Anhänger von Schiesches | |
und die von Mühl. | |
Als manche seiner alten Freunde in Bremen die Grünen gründeten, war | |
Schiesches auf einem ganz anderen Dampfer. In der Bremischen Öffentlichkeit | |
tauchte er wieder auf, als er sich zur Bürgerschaftswahl 1991 einer | |
Wählerinitiative "Wir und Wir - die fahrradeuphorischen Epikuräer" | |
anschloss. Noch heute liegen in seiner letzten Wohnung einige Ausgaben des | |
selbst gedruckten "Epikuriers". Da lesen wir über die Männer, die | |
Muttersöhnchen: "Ihre orgiastische Impotenz und ihre kindische Angst | |
versuchen sie mit Macht zu kompensieren. Geld ist Macht." Aber das wollte | |
damals schon niemand mehr hören. | |
Er war auch in seinen letzten Jahren nicht einsam, sagen seine Freunde, die | |
ihn öfter besucht haben. Aber Schiesches lebte allein und das war sicher | |
eine Lebensweise, von der er nie geträumt hatte. | |
1 Sep 2010 | |
## AUTOREN | |
Klaus Wolschner | |
Klaus Wolschner | |
## TAGS | |
Radio Bremen | |
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