# taz.de -- Memoiren von Claude Lanzmann: Ein unerbittlicher Auftrag | |
> Er ist Philosoph, Widerstandskämpfer und Regisseur von "Shoah". Nun hat | |
> Claude Lanzmann seine Erinnerungen aufgeschrieben: "Der patagonische | |
> Hase" ist ein monumentales Werk. | |
Bild: Außerhalb jeder Religion und Tradition erzogen: Regisseur Claude Lanzman… | |
Dass die industrielle und handwerkliche Vernichtung von sechs Millionen | |
europäischer Juden unvorstellbar sei, gehört inzwischen zum Allgemeingut | |
jeder zeitgeschichtlichen Konversation. Das liegt nicht zuletzt daran, dass | |
es vom Kern dieser Mordaktionen, etwa den Vergasungen in Treblinka und | |
Birkenau, kein überliefertes Bildmaterial gibt. | |
Gleichwohl hat nichts unsere Kenntnis und Vorstellungskraft hinsichtlich | |
dieser Untaten so mobilisiert wie Claude Lanzmanns erstmals 1985 | |
präsentierter, neuneinhalb Stunden langer Dokumentarfilm "Shoah". Doch wer | |
ist - und wer war - der Autor dieses außergewöhnlichen Films? Jener | |
Regisseur, um dessen 1972 gedrehten Film "Pourquoi Israel" noch im Jahr | |
2009 unter Hamburger Linken heftig - teilweise gewaltsam! - gestritten | |
wurde. | |
Claude Lanzmann, 1925 in einer Familie osteuropäisch-jüdischer, | |
naturalisierter Immigranten in Frankreich geboren, hat nun seine | |
Erinnerungen vorgelegt. Die 2009 auf Französisch publizierten Memoiren | |
erscheinen heute auf Deutsch. Es sind die Erinnerungen eines Mannes, der | |
sich seiner Fähigkeiten, seiner Attraktivität und seines Wertes wohl | |
bewusst ist und sein Licht an keiner Stelle unter den Scheffel stellt. Mit | |
nunmehr fünfundachtzig Jahren hat Lanzmann, der - als er "Shoah" zu drehen | |
begann, immerhin schon beinahe fünfzig Jahre alt war - viel, sehr viel zu | |
erzählen. | |
Die Biografieforschung weiß, dass den Eröffnungszeilen, den Anfängen selbst | |
erzählter Lebensgeschichten eine Schlüsselrolle zuzumessen ist: Auf den | |
ersten 20 von mehr als 666 dicht erzählten Seiten setzt sich der Autor | |
kritisch mit der Todesstrafe auseinander und führt sich damit als ein | |
libertärer Humanist ein. Dies, obwohl wir später erfahren, dass er lange | |
Jahre der Sowjetunion die Treue hielt. Er gehörte schon früh zur | |
Protestbewegung gegen den Algerienkrieg, wurde aber doch immer wieder, ja | |
immer stärker auf seine jüdische Identität gestoßen, eine Identität, die er | |
zunächst durch Verfolgung und Widerstand erworben hat und die er später im | |
Lichte von Sartres 1946 publizierten "Überlegungen zur Judenfrage" sowie | |
seinem Interesse am Staat Israel finden sollte. | |
Resistance und Wissen | |
Lanzmann und seine Familie waren naturalisierte Franzosen, französische | |
Staatsbürger und deshalb - anders als jene in Frankreich lebenden Juden, | |
die keinen deutschen Pass hatten - sogar im Frankreich des kollaborierenden | |
Vichy-Regimes zunächst geschützt. Das ermöglichte es seinem Vater und ihm | |
schon bald - noch als Schüler -, in der Resistance mitzukämpfen. Dieser | |
Teil von Lanzmanns Lebensroman leuchtet ein weitgehend unbekanntes Kapitel | |
französischer und jüdischer Geschichte aus. Anders als etwa in den | |
Erinnerungen von Alfred Döblin, einem Roman von Anna Seghers oder den | |
Lebensgeschichten von Hannah Arendt oder Walter Benjamin geht es hier nicht | |
um Flucht und Entkommen aus Frankreich, sondern um die Chance, in | |
Frankreich Widerstand zu üben. Es mögen diese als Schüler gemachten | |
Erfahrungen sein, die ein Selbstbewusstsein prägten, das sich in dieser | |
Autobiografie ungebrochen ausspricht. | |
Schon früh nach dem Krieg ging der wissensdurstige junge Mann nach | |
Deutschland, zu Michel Tournier nach Tübingen. Aber auch nach Berlin, mit | |
einem Lehrauftrag an die Freie Universität. Das Erscheinen der | |
französischen Ausgabe seines Buches 2009 wurde im deutschen Feuilleton | |
durch einen Miniskandal irritiert. Die Frage lautete, ob Lanzmann | |
tatsächlich alte Nazistrukturen nach 1945 an der Freien Universität | |
Westberlins aufgedeckt hatte und so deren ersten Rektor, Edwin Redslob, | |
1949 zum Rücktritt zwang. | |
Bei der Lektüre dieses so reichen, umfangreichen Erinnerungen-Buches | |
erscheint es unglaublich, dass sich die Vorkritik lange bei dieser | |
Petitesse aufhielt. Tatsächlich spielte der Berliner Aufenthalt in den | |
späten 1940er Jahren für den Autor eine ganz andere, sehr viel bedeutsamere | |
Rolle: Er zwang ihn dazu, sich mit seinem Judentum auseinanderzusetzen. | |
Ein von Lanzmann an der Freien Universität gehaltenes Seminar zum | |
Antisemitismus lief auf eine Debatte zu Sartres 1946 auf Französisch | |
publizierte "Überlegungen zur Judenfrage" hinaus. Eine Erfahrung, die für | |
Lanzmann gar nicht wichtig genug sein konnte: "Ich war", so bekennt er nun, | |
"genau der Jude aus den ,Überlegungen', war außerhalb jeder Religion und | |
Tradition, jeder im eigentlichen Sinne jüdischen Kultur erzogen worden. Die | |
Tatsache, dass ich drei Jahre später, im Jahr 1952 nach Israel ziehen | |
wollte, ist übrigens zutiefst mit jenem Seminar verbunden: ich wusste, dass | |
ich über die ,Überlegungen' hinauskommen musste. Dass es durchaus noch | |
anderes zu entdecken und zu denken gab." | |
Nicht alles, was er in Israel sah, sagte ihm zu. Nicht die ärmlichen | |
Zeltstädte der maghrebinischen und jemenitischen Neueinwanderer. Und schon | |
gar nicht der Umstand, dass es in Israel jüdische Putzfrauen gab. Lanzmann | |
blieb nicht in Israel. Er ging nach Paris zurück und geriet dort in die | |
Umlaufbahn Jean-Paul Sartres und der Pariser Existenzialisten- und | |
Künstlerszene, um bald an den Temps Modernes mitzuarbeiten. | |
Er selbst und seine Schwester Evelyne, eine Schauspielerin, gerieten | |
schnell in das erotische Gravitationsfeld der Pariser Philosophen; während | |
Evelyne mal mit Sartre, mal mit Gilles Deleuze liiert war, wurde Lanzmann | |
für immerhin sieben Jahre der Geliebte und Partner von Simone de Beauvoir. | |
Seine Erinnerungen sind in dieser Perspektive nur so diskret wie unbedingt | |
nötig. Das gilt auch für vielfältige andere Amouren, von denen die episch | |
geratene Erzählung einer Liebe zu einer nordkoreanischen Krankenschwester | |
in Pjöngjang, mit der er sich jedenfalls semantisch nicht verständigen | |
konnte, noch die interessanteste ist. Die Geschichte seiner in Israel | |
geschlossenen Ehe mit der deutsch-jüdischen Schriftstellerin Angelika | |
Schrobsdorff deutet demgegenüber nur Schemen an. | |
Lanzmann setzte sich aktiv für die Unabhängigkeit Algeriens ein und kannte | |
den Theoretiker einer gewaltsamen Befreiung der Kolonisierten, Frantz | |
Fanon, gut. Gleichwohl waren es letzten Endes die Shoah und der Staat | |
Israel, also jene für ein säkulares jüdisches Bewusstsein entscheidenden | |
Faktoren, die ihn prägten. Auf der Suche nach einem, nach seinem jüdischen | |
Selbstverständnis drehte er 1972 den noch heute umstrittenen Film "Warum | |
Israel?". Der trug ihm die wohlwollende Aufmerksamkeit der damaligen | |
israelischen Regierung ein. Sie forderte ihn auf, einen Film über die | |
Massenvernichtung der europäischen Juden zu drehen und unterstützte dies | |
anfangs auch finanziell, zog sich aber bald aus der Förderung zurück. | |
Auf "Shoah", jenen Film, an dem Lanzmann zwölf Jahre arbeitete, folgte 1994 | |
noch ein weiterer von Israel gesponserter Film ("Tsahal") über die | |
israelische Armee. Die Kapitel seiner Erinnerungen, die sich mit dem Drehen | |
von "Shoah" befassen, gehören mit zu den spannendsten. Hier wird deutlich, | |
welch detektivischer Spürsinn und welche List vonnöten waren, um ungestört | |
dahinlebende NS-Massenmörder wie Franz Suchomel, Percy Broad oder Walter | |
Stier ins Gespräch und vor eine - verdeckte - Kamera zu bekommen. Das war | |
nicht immer ungefährlich. Einmal flog er mit verdeckter Kamera auf. | |
Lanzmann und seine Assistenz konnten sich nur mühsam vor den wütenden | |
körperlichen Angriffen retten. | |
Es waren die zwölf Jahre währende Arbeit an diesem Film, an der | |
erschütternden Begegnung mit Zeitzeugen, überlebenden Mitgliedern von | |
"Sonderkommandos" wie dem Friseur Abraham Bomba, der den Menschen, die | |
vergast werden sollten, zuvor noch die Haare schneiden musste, die | |
Lanzmanns ansonsten wohltuend nüchternen politischen Blick auf Israel und | |
seine Armee veränderten und ihn nicht nur zu langatmigen Schilderungen | |
militärischen Gerätes, zumal von Flugzeugen verführten, sondern auch zu | |
Kitsch und Apologetik. | |
Hinreißend schöne Mädchen | |
Als Autor des Films "Tsahal" genoss Lanzmann als Zivilist das Privileg, in | |
Kampfflugzeugen mitfliegen zu dürfen, was eine Einkleidungszeremonie zur | |
Folge hatte, die ihn an ein Gedicht Rimbauds erinnerte: "Dann eilen zur | |
Bettstatt zwei reizende Schwestern mit zierlichen Fingern und silbrigen | |
Nägeln - weil auf einmal drei hinreißend schöne Mädchen sich an mir zu | |
schaffen machten, mich völlig zu entkleiden begannen und mir nur die | |
Unterhose ließen - und selbst dessen bin ich mir, bei einiger Überlegung, | |
nach der langen Zeit nicht mehr sicher." | |
Es scheint ein unausweichliches Gesetz zu sein, dass die Synthese von | |
Waffen und Erotik jeden kritischen Blick aufs Militär vernebelt. Man muss | |
gar nicht lange darüber diskutieren, dass Israel auf eine schlagkräftige | |
Armee angewiesen ist; wie sehr jedoch diese noch unumgängliche | |
Kriegsbereitschaft die psychische und moralische Integrität der | |
israelischen Jugend untergräbt, kann man etwa in dem Roman des diesjährigen | |
Friedenspreisträgers des deutschen Buchhandels, in David Grossmanns "Eine | |
Frau flieht vor einer Nachricht" nachlesen. Vor dieser Kontrastfolie sind | |
Lanzmanns Behauptungen zu lesen: Die israelischen Soldaten "haben die | |
Gewalt nicht im Blut, und das Vetorecht des Lebens, das die Bewahrung des | |
Lebens zum Prinzip macht, hat zu besonderen militärischen Taktiken geführt, | |
die für diese Armee und keine andere bezeichnend ist." | |
Claude Lanzmanns sehr umfangreiche, nicht immer zwischen Wesentlichem und | |
Unwesentlichem scharf genug trennende, von Eitelkeit nicht ganz freie | |
Autobiografie stellt gleichwohl eine unschätzbare Quelle zum besseren | |
Verständnis eines säkularen und intellektuellen Diasporajudentums dar. Vor | |
allem aber lässt sie ahnen, wie das Meisterwerk "Shoah" möglich wurde - | |
ohne dass sich doch die Größe und Bedeutung dieses Films auf die | |
Lebensgeschichte seines Autors reduzieren ließe. | |
Lanzmann, das wird nach der Lektüre dieser Memoiren deutlich, war genau | |
jenes Medium, dessen die Zeugen, die in seinem Film zu Wort kommen, | |
bedurften. Der Autor protokolliert es ebenso selbstbewusst wie treffend: | |
"Ich hätte niemals zwölf Jahre meines Lebens damit verbringen können, ein | |
Werk wie ,Shoah' zu schaffen, wenn ich selbst im Konzentrationslager | |
gewesen wäre. Es gibt keine echte Schöpfung ohne Undurchsichtigkeit. Eines | |
ist sicher, die Haltung des Zeugen, die ich seit meiner ersten Israelreise | |
einnahm und die im Lauf der Zeit und der Werke weiterhin bestärkt und immer | |
fruchtbarer wurde, verlangte, dass ich zugleich drinnen und draußen war, so | |
als wäre mir ein unerbittlicher Auftrag erteilt worden." | |
7 Sep 2010 | |
## AUTOREN | |
Micha Brumlik | |
## TAGS | |
Schriftstellerin | |
Claude Lanzmann | |
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