Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Regisseur über Berlinale-Gewinner "Bal": "Wir leben in einer Jetzt…
> Semih Kaplanoglus Film "Bal - Honig" ist der dritte Teil einer Trilogie
> über einen Lyriker, der aus einem kleinen Dorf stammt. Jetzt kommt der
> Berlinale-Gewinner ins Kino.
Bild: Kunstkino par excellence: Bal - Honig.
taz: Herr Kaplanoglu, die Trilogie, mit der Sie weltbekannt geworden sind
und deren Abschluss nun der Berlinale-Gewinner "Bal" ist, ist Kunstkino par
excellence. Nun liest man aber, dass Sie nach Ihrem Filmstudium lange in
der Werbung gearbeitet, dann sogar eine populäre Fernsehserie gedreht
haben. Wie kam es dazu?
Semih Kaplanoglu: Nach meinem Studium bin ich nach Istanbul gezogen, die
einzige Stadt der Türkei, in der man Filme machen konnte. Nur konnte ich
das erst mal eben nicht - und musste deshalb jobben. Das waren
unterschiedliche Jobs, in Werbeagenturen, wo ich es dann meist nur ein paar
Monate ausgehalten habe. Aber ich habe auch als Journalist gearbeitet und
als Kameraassistent. Das waren die Achtziger, keine guten Zeiten, nicht nur
für Regisseure. Die Ära der Militärjunta war 1980 zu Ende gegangen, aber
von Demokratie war zunächst noch sehr wenig zu spüren. Es wurden damals
vielleicht drei, vier Filme im Jahr überhaupt produziert. In diesem Umfeld
habe ich die Fernsehserie geschrieben und bei 52 Folgen tatsächlich Regie
geführt. Von dem Geld für die Serie habe ich dann meinen ersten Spielfilm
produziert. Ich habe dabei viel gelernt, was die Arbeit mit der Kamera, den
Umgang mit Schauspielern angeht und manches mehr, das ich auf der
Filmschule nicht gelernt hatte. Am wichtigsten war aber, dass ich dabei
gelernt habe, was ich nicht möchte.
Jeden der drei Filme der Trilogie kann man gut für sich sehen. Doch die oft
subtilen Zusammenhänge und wiederkehrenden Motive werden deutlich, wenn man
die Filme nun hintereinander sieht. Zugleich stimmen die zeitlichen
Abstände zwischen den Filmen chronologisch überhaupt nicht. Wie würden Sie
selbst dieses Verhältnis von Zusammenhang und Diskontinuität beschreiben?
Jeder Film steht einerseits, wie Sie sagen, für sich. Jeder ist
eigenständig und abgeschlossen. Ich habe mich aber von Anfang an dafür
entschieden, das nicht als Flashback zu inszenieren und dabei jeweils in
eine durch Kleidung und Alltagsgegenstände etc. historisch eindeutige
Epoche zurückzukehren. Ich glaube nämlich, dass wir in einer lang
ausgedehnten Jetztzeit leben, dass wir Zeit nicht in klar trennbaren und in
sich abschließbaren Abschnitten wahrnehmen. Wir strukturieren unsere
Zeitwahrnehmung und unsere Erinnerung vielmehr über einzelne Momente, über
Gefühle, zu denen wir im Erinnern jeweils neu eine Beziehung aufbauen.
Deshalb wollte ich den Stoff nicht in eine Historizität einsperren, das
wäre mir falsch erschienen. Schließlich lassen wir das, was uns geschehen
ist, nicht einfach in der Vergangenheit zurück. Das sind ja die Ereignisse,
die mich zu dem gemacht haben, der ich bin - und deshalb sind und bleiben
sie immer anwesend. Das zu evozieren, darum geht es mir in meinen Filmen.
Wenn man die Filme in der Entstehungsreihenfolge ansieht, dann kann man bei
"Bal", dem zuletzt entstandenen, aber am weitesten in die Biografie des
Protagonisten zurückgehenden Film eine sehr ungewöhnliche Erfahrung machen,
die mir wichtig ist. Man sieht den Jungen und denkt sich: Ich weiß, was aus
ihm geworden, was ihm später widerfahren ist. Man kann dann diesen
doppelten Blick haben. Das, was ihm geschieht, wird ihn zu dem machen, den
man in den vorherigen Filmen kennengelernt hat.
Man könnte aber auch sagen: Das ist ein seltsam blockierter Bildungsroman.
Chronologisch korrekt erzählt wäre da ein Kind vom Dorf, das früh den Vater
verliert und zum Dichter in der Stadt wird. Hier aber erlebt der Zuschauer
eine Rückentwicklung. Am Ende steht die Zeit fast still. Hat das nicht auch
eine gefährliche Seite, weil es der Freude an der Regression, einer
gewissen Erinnerungsgemütlichkeit zuarbeitet?
Ich sehe da keine Gefahr, auch nichts Negatives. Mich interessiert eher,
was die Menschen im Zuge des Fortschritts, im Zuge von zu schnellen
Veränderungen verlieren. Meine Fragen gelten den Wurzeln des Menschen, und
ich glaube nicht, dass man die einfach abschneiden kann. Zur
Auseinandersetzung mit der Gegenwart gehört für mich das Aufbewahren
dessen, was man hinter sich gelassen hat. Veränderungen können für meine
Begriffe nur aus der Rückkehr entstehen. Für Yusuf in "Yumurta", dem ersten
Film, ist die Rückkehr in die Kleinstadt nach dem Tod seiner Mutter deshalb
auch eine Gelegenheit, sich neu zu entdecken.
Würden Sie mir zustimmen, dass es in "Bal" in erster Linie um ein
"Zur-Sprache-Kommen", ein "Zur-Sprache-Finden" des kleinen Jungen Yusuf
geht, der später zum Dichter wird? Am deutlichsten in den Szenen im
Unterricht, in denen er vorlesen soll und muss, aber lange nicht kann. Das
steht in einem spürbaren Spannungsverhältnis zum Aufgehobensein in der
Natur und zum flüsternden Austausch mit dem Vater.
Ich sehe das im Bezug zu einer Grundfrage, die die türkische Kultur seit
zweihundert Jahren prägt. Uns - und das betrifft mich ebenso wie zum
Beispiel einen Schriftsteller wie Orhan Pamuk - ist das Verhältnis von
Tradition und Modernität, Osten und Westen fundamental problematisch: ein
ständiger Zwiespalt, ein ständiges Hinterfragen der eigenen Position. In
"Bal" etwa gibt es die Schule als formales Bildungssystem auf der einen
Seite. Die Vermittlung eines anderen Wissens, eines mit der Natur
verbundenen Wissens geschieht in den Szenen, in denen der Vater mit dem
Sohn etwa über die verschiedenen Honigsorten spricht. Yusuf als Kind lebt
zwischen diesen beiden Wissensformen. Natürlich findet er dann zur Sprache
und trägt diese Sprache in einen Bereich jenseits des Alltags. Die
Grundfragen, die ihn bewegen, liegen aber auf der Achse dieser
Grundspannung: ein andauerndes Selbsthinterfragen und Neudefinieren. Diese
Tendenz zur Rückkehr zur eigenen Sprache, zur eigenen Kultur macht den
Einzelfall meines Individuums Yusuf immer auch exemplarisch.
8 Sep 2010
## AUTOREN
Ekkehard Knörer
## TAGS
Dokumentarfilm
## ARTIKEL ZUM THEMA
„Land des Honigs“ auf DVD: Fifty-fifty ist ein Gleichgewicht
Globalisierungsdrama auf kleinstem Raum: Der Dokumentarfilm „Land des
Honigs“ über die letzte Wildimkerin Nordmazedoniens ist auf DVD erschienen.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.