# taz.de -- die wahrheit: Raddadatzooong! | |
> Ein bislang unveröffentlichtes Kapitel aus den Memoiren des großen | |
> deutschen Feuilletonisten Fritz Jott Raddatz. | |
Bild: Der Großmeister des Feuilletons Fritz Jott Raddatz. | |
Soeben sind die Memoiren des großen deutschen Feuilletonisten Fritz Jott | |
Raddatz unter dem genialen Titel "Tagebücher 1982-2001" erschienen. Darin | |
lässt Fritz Jott Raddatz das abenteuerliche Leben eines großen deutschen | |
Feuilletonisten Revue passieren. Unter schier unglaublichen Umständen | |
gelang es der Wahrheit jetzt, den Großmeister des deutschen Feuilletons | |
davon zu überzeugen, der Veröffentlichung eines Kapitels seiner | |
Erinnerungen zuzustimmen, das bislang nicht ins Buch aufgenommen wurde und | |
nun hier erstmals veröffentlicht wird. | |
1. September 2010 | |
Warum mache ich nur alles so richtig? Warum gelingt mir alles mit solcher | |
Fortune? Ist die Sicht auf mich selbst von Hochmut grundiert und, kommt das | |
vor dem Fall, Herrgott? Warum schreibe ich "Herrgott"? Wo ich doch gar | |
nicht an den "Herrgott" glaube. Ein Fall für Freud? Darüber nachdenken. | |
Heute rief mich Herr Ringel von der taz an. Ein Anruf von vielen, seit | |
meinem großen Coup letzte Woche. Fragte für seine kleine Gazette | |
überraschend distinguiert und höflich an, ob er für die "Wahrheit" einen | |
kleinen Vorabdruck meiner Tagebücher haben könnte. Nur eine Klitsche, | |
gewiss - aber Bescheidenheit macht wahre Größe aus. Ein Zitat? Marc Aurel? | |
Dauernd über etwas nachdenken müssen. Hm. | |
Aber alle haben es jetzt verstanden, ich wusste schon gar nicht mehr, wohin | |
mit meinem Selbstbewusstsein. Oder doch Zweifel daran? Hm. Aber schon | |
clever, wie ich damals meinen Rausschmiss provoziert habe: "E.T.A. Hoffmann | |
und die Crackpfeife", in einem angeblich authentischen Zeugnis von seinem | |
Freund Theodor Gottlieb von Hippel. Alle hielten mich für meschugge. Aber | |
ich war meinen hochdotierten Posten bei der überregionalen Zeitung (mit | |
großzügiger Abfindung versehen) los. | |
Ich deute es oben an. Das Telefon steht nicht still. Alle rufen an, ohn | |
Unterlass!, und bieten jetzt endlich Hilfe, bestens dotierte neue | |
Redaktionsleiterstellen sowie sexuelle Dienste an. Jedoch, meine natürliche | |
Bescheidenheit gebietet es mir, ihre Anonymität zu wahren. | |
Aber vorvorgestern. Darüber muss ich doch berichten: die aufmerksame | |
Einladung meiner alten Freundin S. von und zu Schlitz zum abendlichen | |
Dinner. Welch Glanz, was für ein herzlicher, ja geradezu enthusiastischer | |
Empfang! Zufällig traf ich, was, so glaube ich, nicht beabsichtigt war, als | |
Letzter ein. Alle erhoben sich! Und alle, aber auch alle, spendeten meinem | |
doch bescheidenen Auftritt Beifall, und ich musste, nach einigen Minuten, | |
dem donnernden Applaus Einhalt gebieten. | |
Die aus altem Adel stammende Gräfin S. von und zu Schlitz hatte für mich | |
und meine Ehrengäste ihr bestes Tischgedeck auflegen lassen. Zwei Lakaien | |
von vollendeter Unsichtbarkeit trugen auf: Blattsalate mit marinierten | |
Anchovis und schwarzen Oliven, geschmorte Riesenoliven, Stockbrot, Wachteln | |
mit Lavendel, Fische im Weinblatt gegrillt, Lammkeule (ebenfalls gegrillt), | |
Dattel-Mandel-Sauce und Pinien-Honig- Sauce. Und für jeden von uns mehr als | |
zwei Flaschen der besten Weine! | |
"Für Sie, mein Lieber, eine Tafel der Solidarität sowie im Andenken Ihres | |
Urahnen im Geiste, des großen Epikur!", eröffnete meine Freundin Gräfin S. | |
von und zu Schlitz die Tafel. Sofort notierte ich in meinem untrüglichen | |
"Gedächtnispalast" die Idee zu einem großen Essay "Epikur in Kreuzberg". | |
Könnte interessant werden. Aber zurück: Auch hier (und wo nicht) wurde | |
meiner überragenden Geistes- und Lebenshaltung Rechnung getragen. Warum | |
aber schreibe ich Rechnung? Es hat doch nichts gekostet! Hm. | |
Nun, wie auch immer, ab dem Stockbrot fing Gräfin S. von und zu Schlitz mit | |
mir (in altbekannter Weise) zu füßeln an. Sehr anregend im Schritt, ihr | |
elegant-adliger Fuß. Im weitläufigen Badezimmer dann bin ich nicht mehr ein | |
Epikur, meine dunkle, die Dionysos-Seite kam durch. Ihr williger, erst | |
78-jähriger, immer noch jugendlich magerer Körper, übersät mit erektil | |
äußerst wirksamen Altersflecken, versetzte mich und vor allem sie in | |
Raserei. "Mein Gott! Dein Schwanz … dein Schwanz … wie groß … wie groß … | |
ist … und … nicht nur groß, nein, er ist … ach … wie sch … öö … … | |
dann, "mein Go … tt", schrie sie ihre, von meiner unerschöpflichen | |
heterosexuellen Tatkraft herausgefickte Seele heraus: "Raddatzong, | |
Raddatzooong!!!" | |
Ja, warum gelingt mir alles so vorzüglich? Warum stehen alle so | |
unerschütterlich zu mir? Halt, das Telefon klingelt. Zum ersten Mal seit | |
vier Minuten. Ungewöhnlich heute. Gehe ran. Der Herausgeber einer großen | |
überregionalen Tageszeitung. Hm. Entschuldigt sich (fast schon eine | |
Zumutung) andauernd, dass er sich für die Rückseite meines Buchs nur einen | |
mittelmäßigen Werbesatz ausgedacht habe. Jetzt schäme er sich. Aber etwas | |
Besseres als "Dies ist er endlich, der große Gesellschaftsroman der | |
Bundesrepublik!" falle ihm nicht ein. Hm. Gott sei Dank ist es egal! | |
AUFGEZEICHNET VON JÜRGEN LENTES | |
15 Sep 2010 | |
## AUTOREN | |
Jürgen Lentes | |
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Lesestück Recherche und Reportage | |
Die Zeit | |
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