# taz.de -- Performance-Kunst: Der Tod in Perlon-Socken | |
> In der Bremer Schwankhalle und im Künstlerhaus am Deich beweisen Tim | |
> Etchells und sein Performance-Ensemble "forced entertainment", dass | |
> Vielschichtigkeit Plattheit voraussetzt. | |
Bild: Spectacular: Robin Arthur in läppischer Skelett-Montur. | |
Nichts stimmt. Das Saal-Licht bleibt schon mal an. Und der vermummte Mann | |
betritt die kahle Bühne genau so, wie es SchauspielschülerInnen | |
normalerweise spätestens im Grundlagenkurs ausgetrieben wird. Also: Ein | |
Muster an Unentschlossenheit, stockend, gehetzter Blick noch einmal über | |
die Schulter zurück hintern Vorhang, weiter nach vorne, bis kurz vor die | |
erste Zuschauer-Reihe. | |
Da steht er dann, genau in der Mitte, das Mikro links am Rand hat er | |
offenbar übersehen. Er kratzt die Wampe, justiert die ausgeleierte | |
Jogginghose nach, beide sind schwarz - und in Weiß ist darauf mit grobem | |
Strich ein Skelett gepinselt, noch plumper fast der Totenkopf überm | |
Gesicht. Und indem er sich durchs Haarbüschel fährt, das am Hinterkopf | |
rausragt, macht er jetzt auch noch erkennbar: Diese Maske ist ein übern | |
Kopf gezogener dunkler Herrenslip in Übergröße. Ihm bleibt nur noch übrig, | |
den Ausfall der Vorstellung zu verkünden. Aber das wird er nicht tun. | |
"Normally", sagt er stattdessen, "the atmosphere is a little bit | |
different". | |
Normalerweise ist die Atmosphäre ein klein wenig anders - das könnte ein | |
Kernsatz des (ungeschriebenen) ästhetischen Programms der fast schon | |
legendären Performance-Gruppe "forced entertainment" sein. Es ist der | |
Beginn ihrer Vorstellung von der gescheiterten Vorstellung: "Spectacular" | |
heißt die, am Dienstag haben die Briten sie in Bremen gezeigt, in der | |
Schwankhalle, gestern stand "Void Story" auf dem Programm. | |
Das haben die Organisatoren ein Festival genannt - was ziemlich verwegen | |
klingt. Denn: Normalerweise versteht man unter einem Festival ein bisschen | |
was anderes. Man denkt da eher an - jedenfalls an etwas mehr doch, als nur | |
zwei Vorstellungen und eine Ausstellung mit einer Peformance-Lecture, heute | |
Abend im Künstlerhaus am Deich. Das ist eine 150-Quadratmeter-Galerie an | |
der Kleinen Weser, und die Ausstellung "Fog Game" besteht auch nur aus vier | |
Arbeiten von Tim Etchells, dem Gründer und Mastermind von "forced | |
entertainment". Aber eben: Was für Arbeiten! Und was für Performances! Es | |
ist ein Fest, ein echtes Fest, auch wenn dazu normalerweise Schmuck und | |
Pomp gehören würde. Und hier ist alles so spartanisch. | |
Spartanisch - oder auch schlicht. Denn das ist das Risiko, das Tim Etchells | |
Kunstwerke ebenso eingehen, wie die "forced entertainment"-Performances: | |
Dass man sie für blöde hält. Tun wir natürlich nicht, weil wir wissen: Die | |
haben Christoph Marthaler inspiriert und Frank Castorff und das halbe New | |
British Theatre gleich mit. Aber kann etwas intelligent sein, das so | |
schrecklich zugänglich, so unverrätselt, so unmittelbar einleuchtend und | |
verständlich daherkommt? Da steht also ein Tod auf Socken und sagt, wie | |
eine imaginäre Show - mit Blumenkübeln links und rechts am Rand, mit | |
riesiger Show-Treppe, über deren Geländer Tänzerinnen auf die Bühne gleiten | |
- normalerweise abgelaufen wäre. Ja und? | |
Oder zum Beispiel das titelgebende Werk der "Fog Game"-Ausstellung. Das ist | |
ein siebenminütiges Video. In dem hat Etchells den Nebel am Strand in | |
Südengland aufgezeichnet, durchschnitten nur vom Gelächter und Rufen | |
offenbar spielender Kinder, die mitunter als dunkle Schemen eher zu erahnen | |
sind als zu erkennen. Oder die Installation "Red Sky At Night", deren Titel | |
die englische Version der Bauernregel "Abendrot - Gutwetterbot" zitiert: | |
Vier Helium-gefüllte Luftballons in unterschiedlichen Farben, jeder mit | |
einer Schnur, an der ein DIN A4-Blatt mit je einem Buchstaben hängt: | |
"H-O-P-E", Hope, Hoffnung. Die Decke bewahrt die Ballons davor, in den | |
Himmel zu steigen. Und am Abend wird das Gas ohnehin diffundiert sein. Da | |
liegen sie dann darnieder. Platt. | |
Wirklich platt? Aber ja doch, schwebende Ballons, die Hoffnung | |
symbolisieren sollen, sind platt. In dem Sinne, wie auch jedes Theater | |
platt ist: Da stehen Leute auf der Bühne und tun so, als wären sie jemand | |
anderes als sie sind. Kann man sich etwas Platteres vorstellen? Robin | |
Arthur etwa, so heißt der Tod auf Perlon-Socken, steht da und tut so, als | |
wäre er der Schauspieler. Robin Arthur in der Rolle des Todes, in einer Art | |
Revue, die geplatzt ist wie ein Ballon. | |
Er tut so, als könnte er sich damit nicht abfinden, erzählt sie in allen | |
ihren Einzelheiten: Die Band, der treibende Bass, die Lichtregie. Und dann | |
kommt Claire Marshall, tritt in Straßenkleidung ans Mikro und sagt: Sie | |
würde jetzt gerne ihre Sterbeszene machen. | |
Und dann legt sie los, schreit, krampft, röchelt, reißt sich gestisch die | |
Gedärme aus dem Leib. Robin wird ihr Tipps geben, Regieanweisungen, sie | |
kritisch evaluieren und brachial verspotten. Man versteht: Nur weil das | |
alles mit dem Mut zur Plattitüde erdacht ist, lassen sich die Ebenen so | |
spielerisch multiplizieren, lässt sich die Frage nach der Bedingung der | |
Möglichkeit des Symbolisierens, des Denkens und des Spielens so spielerisch | |
und so zwingend stellen: Ein Sog entsteht, dem man sich kaum entziehen kann | |
- gerade weil doch letztlich nichts geschieht. | |
Das ist strapaziös, das ist anstrengend: Gerade weil nichts geschieht, | |
gerade weil nur die Möglichkeit des szenischen Geschehens geschildert, nur | |
durch Symbole angetippt und dann rabiat durchkreuzt wird, versetzt diese | |
Art von Kunst ihre Betrachter und ihre Zuschauer in Aktion. Sie zwingt, | |
mitzuarbeiten - in Gedanken. Und das ist vielleicht das größte Glück, das | |
ein Publikum erleben kann. Normally, the atmosphere is a little bit | |
different. | |
22 Sep 2010 | |
## AUTOREN | |
Benno Schirrmeister | |
Benno Schirrmeister | |
## TAGS | |
Theatertreffen 2017 | |
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