| # taz.de -- Historikertag in Berlin: "Wir sehen die Geschichte gelassen" | |
| > Am Dienstag beginnt der Historikertag in Berlin. Ein Interview mit dem | |
| > Weltgeschichtsschreiber Osterhammel über die Provinzialität der Zunft und | |
| > die Angst vor Chinas Aufstieg. | |
| Bild: "Wir müssen China beobachten, statt in irrationale Ängste zu verfallen"… | |
| Herr Osterhammel, auf dem Berliner Historikertag in dieser Woche gibt es | |
| erstmals auch ein Panel zur Globalgeschichte. Wissen Ihre Kollegen | |
| überhaupt, was das ist? | |
| Jürgen Osterhammel: Ganz so ist es nun auch wieder nicht. Bei der Lektüre | |
| des Tagungsprogramms war ich angenehm überrascht, wie viele Themen jenseits | |
| der deutschen Nationalgeschichte oder der europäischen Geschichte vertreten | |
| sind. | |
| Für das Fach ist das aber nicht repräsentativ? | |
| Ich hoffe, dass der Historikertag dem Fach vorauseilt und Nachzugseffekte | |
| haben wird. | |
| Ist die Disziplin in Deutschland provinzieller als andernorts? | |
| Auch an den History Departments in den USA dominiert die eigene | |
| Nationalgeschichte. Trotzdem ist dort über ein Drittel der Stellen | |
| außeramerikanischer Geschichte gewidmet. Auch kleinere Staaten wie die | |
| Niederlande haben sich seit langem zur Welt geöffnet. | |
| Fühlten sich deutsche Historiker auch wegen der NS-Vergangenheit | |
| verpflichtet, vor allem die Nationalgeschichte in den Blick zu nehmen? | |
| Selbstverständlich - ohne dass der NS-Forschung heute die Themen ausgehen | |
| würden. Hinzu kommt: Deutschland hatte nie ein weltumspannendes Imperium, | |
| das ein globales Bewusstsein hätte nähren können. Eines, das die Kritik an | |
| den Untaten der Europäer in Übersee einschließt. Was wir heute brauchen, | |
| ist die Verankerung der außereuropäischen und globalen Geschichte in der | |
| Personalstruktur. An jedem noch so kleinen Institut muss es mindestens eine | |
| Professur geben, die über die europäische Geschichte hinausweist. | |
| Zusätzliche Stellen wird es kaum geben. Welche Disziplinen wollen Sie | |
| opfern? | |
| In den Institutionen sollte man weniger daran denken, tradierte | |
| Besitzstände der einzelnen Epochen zu wahren. Lösungen sind möglich, wenn | |
| man die Nachfrage der Studierenden berücksichtigt, die Interessen einer | |
| aufklärungsbedürftigen Öffentlichkeit und die internationale Ausstrahlung | |
| der eigenen Hochschule. | |
| Geht das Interesse an Geschichte allgemein zurück? | |
| Wir leisten uns ein gelassenes Verhältnis zur Geschichte. Seit dem | |
| Historikerstreit der Achtzigerjahre gibt es keine fundamentalen | |
| Deutungskämpfe. Das ist in vielen Ländern anders. Indien verfügt etwa über | |
| eine sehr respektable Geschichtswissenschaft. Doch gibt es in der | |
| Öffentlichkeit ein starkes Verlangen, sie im Sinne des Hindu-Nationalismus | |
| zu instrumentalisieren. Geschichtsforschung muss sich dort aggressiver | |
| Ideologisierung erwehren. | |
| Brauchen wir die Geschichte heute weniger als noch vor zwanzig Jahren? | |
| Im Kern bleibt es dabei: Die Geschichte stellt einen Erfahrungsschatz | |
| bereit. Es bedarf politischer Urteilskraft, um ihn auf die Probleme der | |
| Gegenwart zu beziehen. | |
| Warum so defensiv? Auch aus den Erkenntnissen der Klimaforschung lässt sich | |
| nicht unmittelbar ableiten, wie viel Klimagase China emittieren darf und | |
| wie viel die USA. | |
| Aber gerade das Klimathema zeigt, dass wir heute in ganz neue Zonen der | |
| Bedrohung geraten. Prozesse, die wir kaum oder gar nicht mehr korrigieren | |
| können, sind historisch ohne Parallelen. | |
| Das heißt, die Geschichtswissenschaft kann dazu im Prinzip gar nichts | |
| sagen? | |
| Doch. Politik ist heute einerseits extrem kurzschrittig. Andererseits macht | |
| sie sich die unglaublichsten Illusionen über langfristige Gestaltbarkeit. | |
| Die Geschichte mahnt zur Skepsis gegenüber jedem Lösungsangebot, das den | |
| Zeitfaktor für beherrschbar hält. Denken Sie nur an die Frage des | |
| Atommülls. Schon der Begriff der Endlagerung ist in historischer | |
| Perspektive abwegig. Die schriftlich dokumentierte Geschichte der | |
| Menschheit umfasst gerade mal fünftausend Jahre. Dann kommt ein Politiker | |
| und sagt: Ich garantiere euch, in hunderttausend Jahren wird dieser Schacht | |
| im selben Zustand sein wie heute. Das ist absurd. | |
| Wie können sich Historiker auf solche Fragen neu einstellen? | |
| Lange Zeit lehnte sich die Geschichte an die Soziologie an, dann kamen | |
| Anthropologie und Ethnologie. Heute müssen wir unsere Verbindungen zur | |
| Naturwissenschaft stärken, wie etwa mit dem neuen Zentrum für | |
| Umweltgeschichte in München. | |
| Schwerpunkt des Historikertags ist das Thema Grenzen. Was macht das Thema | |
| für die Wissenschaft so attraktiv? | |
| Der Moment des Widerstands. Die Globalisierungsforschung etwa befasst sich | |
| mit Strömen, Flüssen, sogenannten Flows. Sie werden oft erst sichtbar, wenn | |
| sie auf Widerstände treffen. Die Grenze ist eine Art Versuchsanordnung für | |
| die Geschichtswissenschaft. | |
| Wir leben in einer Zeit der Globalisierung, gleichzeitig ist etwa die | |
| Außengrenze der EU unüberwindlicher denn je. Wie geht das zusammen? | |
| Das ist historisch nicht so überraschend. Gerade klassische | |
| Einwanderungsgesellschaften wie die USA, Kanada und Australien betrieben | |
| seit etwa 1880 eine regelrechte Exklusionsgesetzgebung. Sie richtete sich | |
| in erster Linie gegen Asiaten, später auch gegen Südeuropäer - und sorgte | |
| dafür, dass die Grenzen für bestimmte Menschen nicht mehr überwindbar | |
| waren. Diese Personengruppen wurden aufgrund körperlicher und kultureller | |
| Merkmale ausgefiltert. | |
| Erleben wir so etwas ähnliches mit der Sarrazin-Debatte? | |
| Damals handelte es sich nicht bloß um feindselige atmosphärische | |
| Verdichtungen, sondern um staatliche Gesetze. Das ist ein Unterschied. | |
| Etwas anderes ist allerdings die Roma-Abschiebung in Frankreich. Dort geht | |
| der Staat tatsächlich per Dekret gegen eine bestimmte Bevölkerungsgruppe | |
| vor - die gesellschaftlich eine viel schwächere Position hat als die | |
| türkischen Einwanderer bei uns. | |
| Muss der Wandel zu einer Migrationsgesellschaft auch für unser | |
| Geschichtsbild Konsequenzen haben? | |
| Wir sollten uns von Vorstellungen verabschieden, die auf einem historischen | |
| Ausnahmefall beruhen. Migrationsgeschichtlich war Europa niemals so | |
| beruhigt wie in den zwei Jahrzehnten nach dem Ende der kriegsbedingten | |
| Vertreibungen. In diesem ganz kurzen Zeitfenster gab es in Mitteleuropa | |
| kaum demografische Bewegung. Das hat die Wahrnehmung einer ganzen | |
| Generation geprägt, auch bei den Historikern. Als sich das änderte, wurde | |
| es als Störung dieser Normalität empfunden. | |
| Neben der Angst vor dem Islam gibt es die Sorge, ob Europa in der Welt von | |
| morgen noch eine Rolle spielen wird. Müssen wir uns vor China fürchten? | |
| Im deutschen System erkennt man den Angstkoeffizienten immer daran, wie | |
| viele Stellen geschaffen werden. Nach dem 11. September 2001 sind hunderte | |
| von Stellen zur Islambeobachtung entstanden - in Stiftungen, an | |
| Universitäten, beim Geheimdienst. Diesen Effekt kann man in Bezug auf China | |
| nicht feststellen. China-Panik findet auf den Titelbildern der Magazine | |
| statt, sie hat das Alltagsbewusstsein nicht wirklich erfasst. Wir müssen | |
| China beobachten, statt in irrationale Ängste zu verfallen. | |
| Die westlichen Werte sind durch die Expansion Chinas nicht in Gefahr? | |
| Ich halte wenig von der Vorstellung, dass die Welt in Europa und | |
| Nichteuropa zerfällt - mit einem tiefen Graben dazwischen. Vieles, was wir | |
| für eine einsame Entwicklung des Westens halten, hat es in anderen Kulturen | |
| längst gegeben. Auch unabhängig von westlichen Einflüssen. Die rationale | |
| Geschäftsführung zum Beispiel, die man lange für typisch westlich hielt, | |
| gab es schon bei chinesischen Kaufleuten des 17. Jahrhunderts. Auch im | |
| Indien des 19. Jahrhunderts findet sich Bürgerlichkeit. Der Habitus des | |
| Kaufmanns unterschied sich zwischen Lübeck und Delhi nicht dramatisch. | |
| Das ist aber etwas anderes als Demokratisierung. | |
| Es ist unwahrscheinlich, dass es jemals eine Einförmigkeit der politischen | |
| Systeme weltweit geben wird. Rechtsstaatliche Verhältnisse dürften sich | |
| weiter ausbreiten, jedoch nicht immer gefolgt von parlamentarischer | |
| Demokratie westeuropäischen Typs. | |
| 27 Sep 2010 | |
| ## AUTOREN | |
| Ralph Bollmann | |
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