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# taz.de -- Streitschrift gegen Noten: Wie die Schule Verlierer produziert
> Die Grundschullehrerin Sabine Czerny entlarvt die Notenlüge: Für die
> Auslese werden Kinder zur Vier gemacht. Darüber hat sie jetzt ein Buch
> geschrieben.
Bild: Noten lügen. Das findet jedenfalls Grundschullehrerin Sabine Czerny.
Sie hat es wieder getan. Die bayerische Grundschullehrerin Sabine Czerny
machte vor zwei Jahren öffentlich, wie das Schulsystem mittelmäßige
Notenschnitte in einer Klasse erzwingt. Und zwar nur, damit Realschule und
Gymnasium, aber auch die Hauptschule genügend zehnjährige Kinder zugewiesen
bekommen. In Czernys eigener vierter Klasse erreichten die Schüler damals
bei Mathe-Vergleichsarbeiten einen Schnitt von 1,8. Das ist zu gut,
befanden Schulaufsicht und Rektorat. Czerny wurde strafversetzt wegen
Störung des Schulfriedens.
Nun ist Czerny zurück in der Öffentlichkeit. Fast 400 Seiten dick ist ihre
Streitschrift gegen Zensuren und Auslese im Schulsystem. Am Montag
erscheint das Buch "Was wir unseren Kindern in der Schule antun". Dabei
geht es Czerny weniger um Schuldzuweisungen, sondern um einen Blickwechsel.
Sie ist überzeugt: Alle Kinder können lernen, alle Kinder könnten eine Eins
sein. Doch Drill und Zensuren halten sie davon ab. Die Noten spiegeln
stattdessen eine Verteilung in begabte und weniger begabte Kinder vor.
Czerny meint: Noten lügen.
Ein Buch mit ähnlicher Stoßrichtung veröffentlichte kürzlich auch die
Pädagogin Ursula Leppert. Es mag Zufall sein, dass zwei Lehrerinnen zur
selben Zeit ein Buch gegen Noten publizieren. Fakt ist: Beide kommen aus
dem Bundesland, dass Druck und Auslese perfektioniert hat und als eines der
letzten am dreigliedrigen "begabungsgerechten" Schulsystem festhält.
Doch während Leppert bereits pensioniert ist, unterrichtet Czerny an einer
Grundschule. Und das macht ihr Buch so mutig und brisant. Hier schreibt
eine Lehrerin, die in einem Zwiespalt steckt: Sie liebt ihren Beruf und
will das Beste aus den Kindern rausholen. Andererseits erlebt sie, dass zu
viel Erfolg nicht sein darf. Die Verteilung in der Klasse muss stimmen:
wenige Einser, ein paar Zweier, ein Mittelfeld aus Dreiern, und die Vierer
und Fünfer dürfen nicht fehlen.
Schule und Zensuren gehören eben untrennbar zusammen. Czerny entlarvt diese
Liaison als fein aufeinander abgestimmte Auslesemaschinerie, die Kinder vor
allem nach Herkunft trennt. Die Proben, wie die Tests in Bayern heißen,
muss sie so konzipieren, dass die meisten Kinder nicht die volle Punktzahl
erreichen. Alles, was im Unterricht eingeübt wurde, ist nur eine Vier wert,
was eigentlich heißt: Ein Kind hat es kapiert. Die Kultusminister haben
sich aber darauf geeinigt, dass Kinder mehr können müssen als das
Eingeübte, um eine bessere Note zu bekommen.
Beim Kampf um Spitzenplätze sind vor allem jene im Vorteil, die das
Quäntchen "Mehr" von Haus aus mitbringen - bei denen Bücher im Wohnzimmer
stehen und die Eltern auf der Matte, sobald der Notendurchschnitt sinkt.
Kinder aus sogenannten bildungsfernen Familien werden dagegen schnell zur
Vier - und damit zu Verlierern. Die Note bestimmt, wer am Ende der
Grundschule aufs Gymnasium kommt und von dort aus den Weg zu höherer
Bildung und höherem Einkommen einschlägt.
In Bayern, wo Czerny unterrichtet, braucht man einen Notenschnitt von 2,33
in den Hauptfächern. Die Notengebung wird zum Selbstzweck. Das Unbehagen,
das einen in Erinnerung der eigenen Schulzeit beschleicht - oder kennt
jemand noch die Funktion all der Kohlenwasserstoffe, die man für eine gute
Zensur paukte? -, wird gesteigert, schaut man auf die Bilanz unseres
Bildungssystem.
Jeder fünfte Neuntklässler liest nur auf Grundschulniveau. 65.000 Schüler
verlassen die Schule jährlich ohne Abschluss, fast 400.000 bekommen keine
Lehrstelle, sondern absolvieren vorgeschobene Warteschleifen.
Doch die politischen Gegenrezepte gebieten oft mehr vom Gleichen: mehr
Prüfungen, höherer Druck durch kürzere Abiturzeiten, strengere Auslese beim
Übergang auf weiterführende Schularten. Und wo die Politik sich zögernd
vorwagt, konservieren Eltern das Bestehende: In Hamburg haben sie per
Volksentscheid erzwungen, dass die ungerechte Auslese nach Klasse vier
bleibt. Czernys Plädoyer umzudenken, klingt angesichts dieses
Beharrungsvermögens zu optimistisch.
In Berlin dürfen die Eltern der Grundschüler sogar selbst entscheiden, ob
ihre Kinder ab Klasse drei Noten bekommen sollen. Die Elternabende finden
zurzeit statt. Bei einem stimmten alle Anwesenden bei zwei Gegenstimmen für
Zensuren. Begründung: "Ich sag mal, uns hat es ja auch nicht geschadet." Oh
doch, wir ahnen bloß nicht, wie sehr.
Sabine Czerny: "Was wir unseren Kindern in der Schule antun", Südwest
Verlag, 17,99 Euro
1 Oct 2010
## AUTOREN
Anna Lehmann
Anna Lehmann
## TAGS
Kolumne Exit Waldorf
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