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# taz.de -- Halbzeitwahlen in USA: Der Gesundheitsbumerang
> Zwei Jahre nach Obamas Triumph droht bei den Kongresswahlen der Verlust
> der Mehrheit. Ausgerechnet die Gesundheitsreform könnte ihm zum
> Verhängnis werden.
Bild: Weil er sein Versprechen zum Krankenversicherungsschutz eingelöst hat, s…
VIRGINIA BEACH taz | "Es wäre wunderbar, wenn diese Klinik verschwinden
könnte", sagt Susan Hellstrom. "Es wäre ein Traum." Sie meint damit ihren
eigenen Arbeitsplatz, die
Beach Health Clinic in Virginia Beach. In dem türkisfarbenen Flachbau
erhalten 2.000 Menschen kostenlose medizinische Betreuung. Die meisten
Patienten sind berufstätig, aber nicht krankenversichert. Und sie verdienen
so wenig, dass sie unter der Armutsgrenze leben. Allein im Bundesstaat
Virginia gibt es 50 "Free Clinics", landesweit sind es mehr als 1.200. Sie
versuchen, mit Wohltätigkeit die medizinische Versorgung des reichsten
Landes zu verbessern.
Das Problem ist seit Jahrzehnten bekannt. Mehrere US-Präsidenten haben sich
an seiner Lösung versucht, doch alle scheiterten am Widerstand der
Versicherungslobby, der privaten Kliniken und der Pharmaindustrie. Erst
Barack Obama hat es geschafft: Im März dieses Jahres beschloss der Kongress
nach einer monatelangen Auseinandersetzung ein Gesetz, das den
Krankenversicherungsschutz ausdehnt.
Zwar wird es weiterhin keine staatliche Alternative zu den ausschließlich
privaten Krankenversicherungen geben, doch immerhin müssen Arbeitgeber ihre
Beschäftigten künftig versichern, und die Versicherer dürfen keine
Patienten mehr wegen "früherer Krankheiten" ablehnen. Junge Menschen haben
jetzt bis zum Alter von 26 Jahren den Anspruch, bei den Eltern
mitversichert zu bleiben.
Das sind kleine, aber reale Verbesserungen. Eigentlich könnten die
Demokraten stolz darauf sein. Stattdessen schweigen sie - und schauen zu,
wie die Reform zu einem Bumerang wird. Zu hören sind fast ausschließlich
die Kritiker. Sie schimpfen über eine "Kostenexplosion" und über
"staatlichen Dirigismus", den sie "Sozialismus wie in England" nennen. Sie
warnen vor längeren Wartezeiten und schlechterer Behandlung. Sie sagen,
dass es "nicht genug Ärzte" gebe, behaupten, dass künftig "Todesgremien"
über Leben oder Tod älterer Patienten entscheiden würden. Und sie
versprechen, dass sie das Gesetz abschaffen werden, sollten die
Republikaner bei den Wahlen am 2. November die Mehrheit in den beiden
Kammern des Kongresses erobern.
Die Umfragen zeigen, dass die Propaganda erfolgreich ist. Die Republikaner
haben gute Aussichten, zumindest im Repräsentantenhaus die Mehrheit der
Mandate zu erobern. Das würde zwar nicht reichen, um die Reform
zurückzunehmen, wohl aber, um ihre weitere Realisierung zu blockieren.
Die Beach Health Clinic erbringt mit einem winzigen Budget von 300.000
Dollar, das aus Spenden finanziert wird, jedes Jahr Leistungen im Wert von
4,6 Millionen Dollar. Dieses Wunder gelingt, weil Susan Hellstrom so
erfolgreich mit dem ist, was sie "Betteln" nennt. "Ich bettle bei der
Pharmaindustrie um Medikamente, bei den Labors um Untersuchungen und bei
den Ärzten um ihre Arbeit", und fügt bitter hinzu: "Ich tue das nicht in
Afrika, sondern in den USA. In Europa kann das garantiert keiner
verstehen." Sie sucht nach Erklärungen für den starken Widerstand gegen die
Reform. "In diesem Land halten viele eine medizinische Betreuung für ein
Privileg, aber nicht für ein Recht." Tatsächlich garantiert die Verfassung
ein Recht auf Waffen, aber keines auf medizinische Betreuung.
Dawn Huggins-Jones ist Gynäkologin. Wie fünfzig andere Ärzte arbeitet sie
an ihrem freien Tag unentgeltlich in der Beach Health Clinic. Sie stammt
aus einer afroamerikanischen Familie, ihre Mutter war Krankenschwester. Als
Ärztin will sie "der Community etwas zurückgeben". Huggins-Jones hat häufig
mit Afroamerikanern zu tun, die keine Krankenversicherung haben. Doch sie
sagt: "Dies ist kein Konflikt zwischen Schwarzen und Weißen, sondern einer
zwischen arm und reich".
Ihren Lebensunterhalt verdient die 53-jährige Ärztin in einer privaten
Praxis in Virginia Beach. Die Probleme der lückenhaften
Gesundheitsversorgung begleiten ihre Arbeit sowohl in der Praxis als auch
in der Beach Health Clinic. Dazu gehört, dass die medizinische Versorgung
in der Regel erst dann einsetzt, wenn die Menschen schon erkrankt sind.
Vorsorge ist in den USA selten.
Manchmal greif Dawn Huggins-Jones auf Tricks zurück, um für ihre
Patientinnen gynäkologische Krebstests durchzuführen. "Als Nebensache,
während einer Diätkur beispielsweise, ist das manchmal möglich", erzählt
sie schmunzelnd. Zudem stürben in den USA viele Menschen an Krankheiten,
die problemlos behandelt werden könnten. "Mit einer flächendeckenden
Versorgung würden wir Diabetes und Bluthochdruck zwar nicht ausrotten",
sagt die Ärztin, "aber immerhin müsste niemand mehr daran sterben."
Im Herbst 2008, der sich heute wie eine ferne Vergangenheit anfühlt,
standen die Zeichen auf "Change" - auf Veränderung. Die Wähler wollten
einen radikalen Gegenentwurf zu George W. Bush im Weißen Haus sehen. Und
sie wollten einen neuen Kongress. Selbst die Bauern und Militärs in der
traditionell konservativen Küstenregion Virginias wählten den Demokraten
Glenn Nye in das Repräsentantenhaus. Der nutzte jede Gelegenheit, um sich
mit Barack Obama zu zeigen. Nye ist einer jener jungen Demokraten, die in
Obamas Windschatten ins Repräsentantenhaus gelangten. Kaum dort angekommen,
trat Nye den "Blue Dogs" bei, einem Club von konservativen Demokraten.
Seither hat er sich zu einem der konservativsten Abgeordneten der
Demokraten entwickelt, wie der Politologe Jesse Richman von der Universität
Norfolk feststellt. So stimmte der heute 36-jährige Nye im März gegen die
Gesundheitsreform. Seine Begründung: Die Reform, die seit Anfang der
Neunzigerjahre diskutiert wurde, sei "zu schnell" gekommen und koste "zu
viel".
Sein "No" in Washington rief zu Hause in Virginia Verbitterung und
Verständnislosigkeit hervor. Für seine neuen Wahlkampfbroschüren hat Nye
freiwillig auf Obama-Bilder verzichtet. Viele, die Glenn Nye noch 2008 beim
Wahlkampf halfen, haben sich von ihm abgewandt.
Phil Kellem, Demokrat aus Virginia Beach, stellt dem Abgeordneten in einem
Onlinevideo die Frage: "Hast du deine Stimme an die Versicherungen
verkauft?" Und Joe Cook, der Präsident der örtlichen Gruppe des linken
Parteiflügels Move.on, sagt: "Er hat den Präsidenten betrogen. Und er hat
uns betrogen." Statt für Nye wirbt Cook dieses Mal per Telefon für linke
Demokraten in weit entfernten Wahlkreisen der USA.
"Sehr, sehr enttäuscht" von Glenn Nye und seinem Votum gegen die
Gesundheitsreform war auch Bill Payne. Der afroamerikanische Rentner
bezeichnet sich selbst als "moderaten Demokraten". Allerdings hat er seinem
Abgeordneten inzwischen "verziehen"; er macht sogar Wahlkampf für ihn.
Seine Begründung: "Er hat für sein politisches Überleben gestimmt."
Nichts ist unsicherer als das. Der Bumerangeffekt, den die Reform auslöste,
bedroht nicht nur die Zukunft der Obama-treuen Abgeordneten, sondern auch
die jener der 34 Demokraten, die dagegen gestimmt haben. Für die Wähler ist
ein Unterschied zwischen ihrer Position und jener der rechten Opposition
kaum noch zu erkennen.
Als Glenn Nye an einem sonnigen Herbsttag, drei Wochen vor den Wahlen, über
eine Wiese in Cape Charles im Norden seines Wahlkreises schlendert, bekommt
er Beifall von rechts. "Bravo, Sie haben genau richtig gestimmt", ruft ihm
Restaurantbetreiberin April Stillson zu. "Schade, dass Sie nicht bei uns
sind, den Republikanern." Doch Wählerstimmen wird ihm diese Unterstützung
nicht bringen. Nye, der früher für das US-Außenministerium im Ausland tätig
war, gibt sich gelassen: "Ich habe den Kosovo, Afghanistan und Irak
überlebt. Da werde ich auch das überleben."
Joe Cook ist enttäuscht: "Der Fehler war, dass Obama nicht in die Offensive
gegangen ist." Statt seine Reform in der Öffentlichkeit zu verteidigen,
habe der Präsident hinter verschlossenen Türen Zugeständnisse an die
Republikaner gemacht. "Am Ende war das Gesetz stark republikanisch
verwässert. Aber es hat dennoch nicht die Unterstützung der Opposition
bekommen", sagt er.
Bei Fachärzten wie William Yetter, der eine psychiatrische Praxis in
Virginia Beach hat und der zudem eine geriatrische Abteilung in dem
öffentlichen Krankenhaus von Chesapeake betreut, hat die Gesundheitsreform
vor allem zu Konfusion geführt. Als Arzt verbringt er ohnehin viel Zeit mit
Verwaltung. Er muss mit Versicherungen verhandeln, bevor er seinen
Patienten ein teures Medikament verschreiben oder eine Verlängerung ihres
Krankenhausaufenthalts verordnen darf. "Warum soll ein Arzt
Versicherungsleute, die ihre Zahlen im Kopf haben, von medizinischen
Notwendigkeiten überzeugen?", fragt er.
Der 53-Jährige hätte es sinnvoller gefunden, wenn das Gesetz die
bürokratischen Hindernisse verringert hätte. Wenn "für dieselben
medizinischen Leistungen dieselben Honorare" eingeführt worden wären. Und
wenn es statt der vielen privaten Versicherungen nur einen öffentlichen
Ansprechpartner für die Ärzte gäbe. "Die Regierung hat zu viel mit den
Versicherungen und zu wenig mit uns Ärzten geredet", sagt der Psychiater.
Selbst im Wartezimmer in der Beach Health Clinic, wo jene stranden, denen
die Gesundheitsreform zugutekommen soll, ist keine Begeisterung zu spüren.
Thomas, ein 31-jähriger Koch, der seinen rechten Arm seit Wochen kaum
bewegen kann, ist als Patient angenommen worden. Er verdient weniger als
11.000 Dollar im Jahr und hat keine Versicherung. Bei den beiden letzten
Präsidentschaftswahlen ist er gar nicht erst wählen gegangen. "Kein
Interesse", sagt er schulterzuckend.
Ein paar Stühle weiter sitzt ein 63-jähriger Maschinist, der vor sechs
Monaten zusammen mit seinem Job seine Krankenversicherung verloren hat. Er
hätte gern ein System, in dem "jeder eine Krankenversicherung hat". Aber
für seine Wahlentscheidung ist das nicht entscheidend. Wenn überhaupt, dann
wählt Alfredo die republikanische Partei. Und die predigt auch im
Gesundheitswesen das "freie Unternehmertum" und lehnt jede "staatliche
Einmischung" ab.
"Die Leute glauben nicht, dass Politik ihr Leben ändern kann." Klinikchefin
Susan Hellstrom versucht, ihre Patienten zu verstehen. Aus ihrem Traum, die
Beach Health Clinic zu schließen, wird vorerst nichts werden. Auch nach der
Reform wird es weiterhin Millionen Amerikaner geben, die arm sind und keine
Versicherung haben. Im nächsten Jahr feiert die Klinik ihr 25-jähriges
Bestehen.
18 Oct 2010
## AUTOREN
Dorothea Hahn
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