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# taz.de -- Neue Ökologie-Bücher: Ökokratie oder Ökodiktatur?
> Ökologie steht im Zentrum einiger Neuerscheinungen. So auch im Buch des
> verstorbenen Hermann Scheer, dessen Werk nun eine Art Vermächtnis ist.
Bild: Hermann Scheer: Erneuerbare Energien, argumentierte er, erweitern die ind…
"EnergEthisch" ist ein Begriff, den man beim ersten Lesen für ein mäßiges
Wortspiel halten muss. "Der EnergEthische Imperativ": Geht's nicht eine
Nummer kleiner?
Selbstverständlich ging es bei Hermann Scheer nie eine Nummer kleiner. Als
designierter Superminister hatte er vor zwei Jahren in Hessen die
Energiewende bis zum letzten Blockheizkraftwerk beschrieben. Als
SPD-Bundestagsabgeordneter pflegte er in furiosen Wahlkampfreden Wind und
Sonne als sozialdemokratische Energiequellen einzugemeinden.
Und in seinem neuesten und nun leider letzten Buch hat er sein großes
Arbeits- und Lebensthema Energiewende - gegen die derzeitige Verkürzung auf
Energieökonomie - in seinem globalhumanistischen Kontext herausgearbeitet
und auf dieser Grundlage die laufenden Debatten aus seiner Sicht auf Stand
gebracht.
Es war als Zwischenbericht gedacht von einem Rastlosen, der das
Geschriebene umsetzen wollte. An diesem Montag wollte er es in München
vorstellen: Nach seinem überraschenden Tod steht es plötzlich als eine Art
Vermächtnis da.
Für Scheer ist die Energiewende von den fossil-atomaren zu den erneuerbaren
viel mehr als ein technologischer oder politischer Prozess oder eine bloße
Notwendigkeit angesichts zu Ende gehender fossiler Brennstoffe und der
Erderwärmung. Scheer definiert die Entwicklung der Gesellschaften hin zu
hundert Prozent Erneuerbaren als ethische Wende.
Erneuerbare Energien, argumentiert er, erweitern die individuelle Freiheit
und den Gemeinnutzen und sie befriedigen die ökonomischen Interessen der
Menschheit, ohne dass sie dafür mit gesellschaftlichen und ökologischen
Schäden bezahlen müsste. Sie haben dadurch einen "überlegenen
gesellschaftlichen Wert".
Zentrale Zukunftsentscheidung ist für ihn die Lösung des Systemkonflikts
zwischen dem neuen und dem konventionellen Energiesystem, auf dessen
Wohlergehen die derzeitige Politik immer noch weitgehend ausgerichtet ist.
Der angebliche Konsens in Politik und Gesellschaft über den Wechsel sei ein
Scheinkonsens. Generell werde der Wechsel nicht im Konsens zu vollziehen
sein, da die Energiekonzerne klare Verlierer dieses "umfassendsten
wirtschaftlichen Strukturwandels seit Beginn des Industriezeitalters" sein
werden. Es heißt demnach: Entweder - oder.
Die ethisch-energetische Wende kommt indes nicht allein durch andere
Ordnungspolitik, sondern erwächst "aus der Multiplizierung vielfältig
motivierter Akteure", also aus der Konsumgesellschaft politisch handelnder
Bürger, aus Wirtschaft und aus Politik. Je dezentraler und je mehr wahrhaft
unabhängige Akteure, desto schneller, desto besser, desto ethischer. Es
geht um Regionalnetze. Gigantische Projekte wie Desertec und sogenannte
Supergrids, also neue Übertragungsleitungen, sind für ihn
"pseudoprogressiv" und letztlich Bremsen.
Die Aufgabe der Politik ist es, so sieht es Scheer, durch eine
Systementscheidung den Energiewechsel zu beschleunigen, den die
Gesellschaft bereits vollzieht. "Im Grunde muss die Politik gar nicht so
viel tun", sagte Scheer vor ein paar Tagen bei einem Gespräch über sein
Buch. "Sie muss den gesellschaftlichen Vorteil in Einzelanreize übersetzen.
Dann besorgt die Gesellschaft alles fast von allein." So differenziert in
der Beschreibung des Weges, so angemessen groß gedacht im seiner
humanistischen Dimension und so fundiert optimistisch wie Hermann Scheer
hat noch keiner den Wechsel von Kohle und Atom zu Wind und Sonne
beschrieben.
Immer häufiger wird derweil der Begriff "Ökodiktatur" ins Spiel gebracht.
Auf der einen Seite von Populisten, die letztlich vor einer Lösung des
Umweltproblems warnen. Auf der anderen Seite als letzter Ausweg.
Der Umweltpolitikjournalist Bernhard Pötter, langjähriger taz-Redakteur,
sieht das Problem darin, dass es in kapitalistisch wirtschaftenden
Demokratien bisher keinen Weg gebe, Wohlstand mit Nachhaltigkeit zu
verbinden. Er stellt die Frage "Ausweg Ökodikatur?" - um sie dann
schleunigst wieder zu verwerfen. Pötter glaubt daran, dass es eine
demokratische Mehrheit brauche (sonst gibt es Aufstand und letztlich eine
Antiökodiktatur).
Abgesehen von humanistischen und demokratischen Prinzipien, fehle es einer
Ökodiktatur schlicht an Innovationskraft. Er setzt die "Ökokratie"
entgegen. Das ist nicht autoritäre Ordnungspolitik, sondern "die
Anerkennung und Umsetzung von Grenzen in unserem politisch-wirtschaftlichen
System zur Erhaltung der Lebensgrundlagen" durch eine gesellschaftliche
Mehrheit.
Ökokratie fordere Beschränkung, um die Freiheit zu erhalten. Das klingt
womöglich pastoral, ist aber dafür in der Sache richtig. Pötters Essay
demonstriert - wie auch Gerd Rosenkranz' Büchlein über die "Mythen der
Atomkraft" - die Qualität der neuen oekom-Reihe "quergedacht": Man wird in
einer Stunde Lebens- und Lesezeit kompetent auf Stand gebracht.
Ökonomischer geht es nicht.
Eine entwickelte Klimakultur der Gesellschaft, also individuelles
politisches und konsumistisches Agieren anhand von ökologischen Leitlinien
findet Pötter ganz nett, aber er traut ihr nichts zu. Grund sind die
Erfahrungen aus dem "links-aufgeklärten Ökomilieu". Dort sei parallel zum
politischen Bewusstsein und zum schlechten Gewissen auch der
Ressourcenverbrauch stets weiter gewachsen.
Die Gegenposition nimmt der Dokumentarfilmer und Schauspieler Hannes
Jaenicke ein, für den individuelles Engagement die Grundlage dafür ist,
dass gesellschaftliche und politische Bewegung entstehen kann. Motto: Die
Energiewende beginnt mit mir. Jaenickes "Wut allein reicht nicht" steht
zudem exemplarisch für individuelles und teilgesellschaftliche Misstrauen
gegenüber Politik und Parteien.
Für den Neu-Engagierten hat der taz-Mitarbeiter Lars Klaaßen die Anleitung
zur Optimierung des persönlichen oder familiären Konsums geschrieben: was
welche Lebensmittel-Qualitätssiegel bedeuten, wie man zu echten
Ökostrom-Anbietern wechselt, wie man sein Geld sauber anlegt, welche Dildos
zu gepflegtem Ökosex führen und vieles mehr.
Die Qualität dieses Buches besteht darin, dass es eine große Menge
komplexes Wissen so runterbricht, dass man sofort loslegen kann. Dafür ist
auch zu verkraften, dass man als Leser mit "du" angesprochen wird.
Hermann Scheer: "Der EnergEthische Imperativ". Kunstmann, München 2010, 272
Seiten, 19,90 Euro
Bernhard Pötter: "Ausweg Ökodiktatur" oekom, München 2010, 86 Seiten, 8,95
Euro
Hannes Jaenicke: "Wut allein reicht nicht". Gütersloher Verlagshaus 2010,
240 Seiten, 22,95 Euro
Lars Klaaßen: "Kauf dir einen Luxusschlitten! Ökotipps für Genießer".
Eichborn, Frankfurt 2010, 211 Seiten, 14,95 Euro
19 Oct 2010
## AUTOREN
Peter Unfried
## TAGS
Nachtarbeit
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