# taz.de -- New Orleans' Musikszene: Eine neue Stadt aus Groove | |
> Die einzigartige Musikszene von New Orleans ist der Grund, dass sich die | |
> Stadt fünf Jahre nach dem Hurrikan "Katrina" langsam von den Verwüstungen | |
> erholt. | |
Bild: Branford Marsalis (2. v. l.) und andere Musiker führten am 28. August ei… | |
Mattes rötliches Licht verwischt die Konturen der Menge. Posaune und | |
Trompete peitschen die Zuhörer auf, Saxofon und Tuba erzeugen immer | |
stärkere Druckwellen. Eine Bassdrum gibt den Takt vor, die Blechtrommel | |
stolpert in Synkopen durch die Akkorde der Bläser. Die "Rebirth Brass Band" | |
entfesselt auf der Bühne ein wahres Inferno. | |
Brass Bands in New Orleans sind so etwas wie Blaskapellen moderner Prägung. | |
Sie nehmen den Jazz, zerren ihn auf die Straße, schleifen ihn durch den | |
Schmutz und vermischen ihn mit Soul und Funk. Sie heißen Hot 8 oder Dirty | |
Dozen, und wo sie auftauchen, bricht sich eine unwiderstehliche Energie | |
Bahn. Rebirth ist eine Institution in der Stadt am Mississippidelta. Seit | |
1983 tritt die Band jeden Dienstag in der Maple-Leaf-Bar im Stadtteil | |
Carrolton auf. An der Wand lehnen ein paar wackelige Holzbänke. Aber wer | |
will bei einem solchen Konzert schon sitzen? | |
New Orleans feiert wieder - zumindest scheint es so. Zu großen Teilen stand | |
die Stadt Ende August 2005 unter Wasser, 1.800 Menschen starben. Fünf | |
Jahre, nachdem der Hurrikan "Katrina" New Orleans fast zerstört hat, stehen | |
noch längst nicht wieder alle Häuser, sind noch längst nicht alle Schäden | |
beseitigt, erst recht nicht die psychischen. Dennoch: Vielen Bewohnern der | |
"Crescent City" ist klarer denn je, was ihre seltsame, halbmondförmige | |
Ansiedlung an der Küste von Louisiana so einmalig macht. Nirgendwo sonst | |
gibt es ein derart breit gefächertes, originäres musikalisches Erbe, das | |
sämtliche Poren der Stadt durchdringt. New Orleans ist sich seiner | |
Geschichtlichkeit bewusst, aber weit davon entfernt, rückwärtsgewandt zu | |
sein. Dass die Stadt trotz der massiven Verwüstungen, die sie erlitten hat, | |
inzwischen so eindrucksvoll wiederkehrt, hat sie vor allem ihrer | |
einzigartigen Musikszene zu verdanken. | |
"Rebuilding New Orleans one Groove at a Time", so hat es sich die Band Papa | |
Grows Funk auf die Fahnen geschrieben: Nicht nur Bagger und Kräne bauen | |
diese Stadt neu auf, sondern Jazz und Cajun, Zydeco, Soul und R n B. | |
"Regeneriert sich die Musikszene, regeneriert sich auch die Stadt." Dies, | |
sagt der Jazztrompeter Leroy Jones, sei von Anfang an seine Überzeugung | |
gewesen. Schon wenige Tage nach der Überschwemmung gründete sich die | |
Organisation Sweet Home New Orleans mit dem Ziel, die in alle | |
Himmelsrichtungen versprengten Musiker zurück in die Stadt zu holen. Bis | |
heute, erzählt Sprecherin Kat Dobson, hilft die Organisation im Land | |
verstreuten Künstlern bei der Rückkehr in ihre Heimatstadt, beim Finden | |
einer neuen Unterkunft, zahlt anfängliche Mietzuschüsse. Sie schließt | |
Krankenversicherungen ab und kooperiert mit der New Orleans Musicians | |
Clinic, die ihre Patienten zu vergünstigten Konditionen behandelt. | |
Denn mit der Musik steht und fällt in New Orleans alles. "Die Identität | |
dieser Stadt ist weitgehend eine musikalische", sagt David Freedman, | |
Manager des Radiosenders WWOZ, der so etwas ist wie das schlagende Herz der | |
Musikszene von New Orleans. Die Musik starb nicht, im Gegenteil - sie gab | |
der Stadt ihr Selbstbewusstsein zurück. Als der Sender während "Katrina" | |
evakuiert wurde, sendete die Station nur fünf Tage später online von einem | |
Server aus Newark, New Jersey. | |
"Vielen gab das die Hoffnung, dass die Stadt nicht für immer zerstört war", | |
erinnert sich Freedman. Bei WWOZ ist die Tür zum Studio immer offen, | |
Musiker gehen ein und aus, so wie auch im bekanntesten Plattenladen der | |
Stadt: Die Louisiana Music Factory in der Decatur Street führt über 2.000 | |
Kommissionskonten von KünstlerInnen, die hier ihre im Selbstverlag oder bei | |
kleinen Labels veröffentlichten Aufnahmen zum Kauf anbieten. Inzwischen | |
sind rund 80 Prozent der Musiker zurückgekehrt - ein Anteil, der etwa dem | |
Rest der Bevölkerung entspricht, aber von großer symbolischer Bedeutung | |
ist. Dass der fast 90-jährige Dave Bartholomew, dessen Songs schon Elvis | |
coverte, seiner Stadt die Treue hält, kann man gar nicht hoch genug | |
einschätzen. Da lässt sich verschmerzen, dass die Musiker der Brüderband | |
Neville Brothers in alle Winde zerstreut leben. Nach "Katrina" eröffnete | |
WWOZ auf seiner Website eine Liste mit Musikern, die den Sturm nachweislich | |
überlebt hatten. Jeder neue Name brachte neuen Mut, und als schließlich der | |
vermisste Fats Domino, den die Nationalgarde in letzter Minute in einem | |
Schlauchboot rettete und den schließlich seine Familie in einem Heim in | |
Baton Rouge ausfindig machte, auf der Liste auftauchte, war dies für manche | |
ein Grund, sich um den Hals zu fallen. | |
Heute lebt der 82-Jährige an der Westbank von New Orleans, auf der anderen | |
Seite des Mississippis. Sein ehemaliges Studio steht wie ein glitzerndes | |
Mahnmahl in der 1208 Caffin Avenue im gespenstischen, weitgehend | |
entvölkerten Lower 9th Ward. Nebel kriecht über den Damm an der Flood | |
Street, auf den übrig gebliebenen Fassaden sind noch die Vermerke der | |
Rettungstrupps aufgesprüht: Ein rotes X, das Datum, das Kürzel der | |
Suchmannschaft und die Anzahl der Leichenfunde. Manche Bewohner belassen | |
die Zeichen wie Tätowierungen auf ihren Häusern. | |
Wie ein Vergrößerungsglas | |
Die neue Blüte der Musikszene von New Orleans wirkt sich auch auf das | |
Angebot aus. Heute, schätzt Leroy Jones, gebe es in New Orleans mehr Clubs | |
und Bars als noch vor "Katrina". An diesem Abend hilft Jones in der | |
altehrwürdigen Preservation Hall im French Quarter aus - der Trompeter der | |
hauseigenen Jazzband ist krank geworden. Hier wird das Erbe des | |
traditionellen New-Orleans-Jazz der 1920er und 30er Jahre bewahrt. Die | |
Musiker tragen Krawatten, der Raum erinnert an eine schlecht beleuchtete | |
Scheune und verströmt die Magie längst vergangener Zeiten. Es gibt keine | |
Mikrofone, die Farbe blättert von den Wänden, viele Zuhörer sitzen auf dem | |
Fußboden. Wer etwas trinken will oder aufs Klo muss, geht zum Irish Pub | |
über die Straße oder in die Pizzeria nebenan. | |
Den musikalischen Kosmos von New Orleans beleuchtet auch die Fernsehserie | |
"Tremé", realisiert von "The Wire"-Macher David Simon. Sie dient als | |
Vergrößerungsglas für das Leben im Stadtteil Tremé nach "Katrina". Zahllose | |
Musiker wie der Jazzer Kermit Ruffins oder Trombone Shorty spielen meistens | |
sich selbst. Gedreht wird an Originalschauplätzen. | |
Viele Missstände in New Orleans hat die Katastrophe paradoxerweise erst | |
sichtbar gemacht. Doch anders als zuvor gibt es jetzt ein soziales Netz, | |
das allerdings fast ausschließlich auf privaten Initiativen beruht. Im | |
Durchschnitt, so Kat Dobson, verdienten Musiker hier weniger als 18.000 | |
Dollar pro Jahr, die meisten leben unterhalb der Armutsgrenze. | |
Non-Profit-Organisationen wie Tipitinas oder der MusiCares Hurricane Relief | |
Fund springen für eine tatenlose Politik in die Bresche. Vielen | |
Verantwortlichen gilt die Musikszene immer noch als Element der | |
Stadtfolklore, für die Belange ihrer Protagonisten setzt sich in der | |
Verwaltung kaum jemand ein. | |
Bei einem Kaffee im Napoleon House, das Napoleon gleichwohl nie bezog, | |
erzählt der Klarinettist Evan Christopher, er sei so verbittert über das | |
Katastrophenmanagement der Regierung gewesen, dass er der Stadt auf Dauer | |
den Rücken kehren wollte. Doch sein Spiel, sagt er, sei so eng mit New | |
Orleans verflochten, dass er im Exil allmählich den Bezug zu dessen | |
lebendigen Ursprüngen verlor. Erst 2008 sei ihm klar geworden, dass er der | |
Stadt nur aus Enttäuschung fern blieb, dass hier Herausforderungen | |
warteten: Wenn die Politik versagt, seien jetzt eben die Musiker gefragt, | |
als Lehrer und als Vorbilder für die Jugend. | |
Ein Dorf - nur für Musiker | |
Er fordert auch einen Musikbürgermeister - nicht unbedingt ein | |
realitätsfernes Anliegen in einer Stadt, für die der Tourismus der | |
wichtigste Wirtschaftsfaktor ist. Ein Besuch in der Port Street im | |
Stadtteil Marigny, einige Minuten vom French Quarter entfernt: Am Haupthaus | |
vorbei geht es in den Garten, Saxofonklänge schallen über den Hof. Nach ein | |
paar Stufen öffnet Martin Krusche die Tür zu seinem Double Shotgun House, | |
einem ehemaligen Sklavenquartier. Krusche kommt aus München, seit 2004 lebt | |
er in New Orleans. Sein neues Haus ist schon fertig - ein ganzes | |
Musikerdorf aus 80 Häusern hat die einst von Jimmy Carter gegründete | |
Hilfsorganisation Habitat for Humanity gebaut. | |
Jeder muss 350 Stunden freiwillige Arbeitsstunden ableisten. Danach kann | |
man sich für ausgeschriebene Grundstücke bewerben. Für sein neues Eigenheim | |
muss Krusche 75.000 Dollar abzahlen, plus Termiten- und Flutversicherung. | |
Nichts von dem, was New Orleans bietet, sagt Krusche, nimmt er heute mehr | |
als selbstverständlich. Die Schneisen, die der Hurrikan in diese Stadt | |
geschlagen hat, sind nicht beseitigt, doch sie haben zu einem besseren | |
Verständnis der eigenen Sonderstellung geführt. Nichts würde New Orleans | |
mehr helfen, als wenn sich dieses Verständnis auch im Rest der Welt | |
verbreitete. | |
"Echte Musikfans", sagt Krusche, "müssen einfach früher oder später den Weg | |
nach New Orleans finden." | |
25 Oct 2010 | |
## AUTOREN | |
Hannes Klug | |
## TAGS | |
Rhythm & Blues | |
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