| # taz.de -- Zum Tod von Nestor Kirchner: Der verkannte Held | |
| > Gewiefter Redner und Stratege - der verstorbene argentinische Expräsident | |
| > Néstor Kirchner war eine Schlüsselfigur im Gefüge der südamerikanischen | |
| > Linken. | |
| Bild: Aufgeklärte Argentinier wissen genau, wen sie verloren haben. Nestor Kir… | |
| Am Donnerstag kam es in der Casa Rosada, dem Präsidentenpalast in Buenos | |
| Aires, zu denkwürdigen Szenen: Zehntausende Argentinier, darunter auffällig | |
| viele junge, zogen am geschlossenen Sarg Néstor Kirchners vorbei, um | |
| Abschied zu nehmen. Abends, es war die zwölfte Stunde der Totenwache, | |
| machte Venezuelas Staatschef Hugo Chávez seiner Kollegin, Kirchners Witwe | |
| Cristina Fernández, die Aufwartung. Dann umarmte er Sohn Máximo. | |
| Minuten später wurde Brasiliens scheidender Präsident Luiz Inácio Lula da | |
| Silva in den Raum geleitet. Ein letztes Mal waren sie zusammen: Chávez, | |
| Lula und Kirchner, die drei wichtigsten Architekten von Südamerikas | |
| "Linksruck" der Nullerjahre. Dazu die trauernde Witwe Cristina, ebenso | |
| Vollblutpolitikerin wie ihre Gäste und seit 1975 gleichberechtigte | |
| Partnerin eines bemerkenswerten Tandems. Durch den Herzinfarkt Néstors, des | |
| "Pinguins", seit letzten Mittwoch gibt es dieses nun nicht mehr. Der | |
| Linksperonist, der unermüdlich an seinem Comeback 2011 gearbeitet hatte, | |
| war erst 60 Jahre alt. | |
| Die aufgeklärten unter den Argentiniern wissen genau, wen sie da verloren | |
| haben. "Niemand hat so viel für unser Viertel getan wie die Kirchners", | |
| sagte eine Bewohnerin der grauen, schier endlosen Außenbezirke von Buenos | |
| Aires. "Was wollen die, die jetzt feiern? Dass Menem zurückkommt?" Carlos | |
| Menem ist das Symbol der neoliberalen Neunziger, die Ende 2001 in den | |
| finanziellen und sozialen Bankrott Argentiniens mündeten. Menems Zeit ist | |
| zwar abgelaufen, doch die Rechte, auch innerhalb Kirchners peronistischer | |
| Partei, wittert Morgenluft. Nach dem Tod Kirchners legten die Kurse | |
| argentinischer Firmen an der New Yorker Börse deutlich zu. Jeder mögliche | |
| Nachfolger wäre "marktfreundlicher" als die Kirchners, sagte ein Analyst. | |
| Doch würde jetzt gewählt, würde Cristina klar gewinnen. Doch kann sie den | |
| begnadeten Machtpolitiker Néstor an ihrer Seite dauerhaft ersetzen? | |
| Konsequenter Humanist | |
| "Hugo, hör auf mit dieser Sozialismus-Geschichte", soll er einmal zu Chávez | |
| gesagt haben. Kirchner, ein Kind der hochpolitisierten frühen Siebziger, | |
| hielt an vielen seiner Grundüberzeugungen fest, war aber kein Dogmatiker. | |
| Er reformierte den obersten Gerichtshof, wechselte die Armeeführung aus und | |
| trieb die Aufarbeitung der Militärdiktatur (1976-83) konsequenter voran als | |
| all seine Kollegen aus den Nachbarländern zusammen. In Argentinien müssen | |
| die Schergen des Putschistenregimes nun die Justiz fürchten. | |
| Doch war er auch bereit, mit den übelsten Vertretern der Peronistenmafia | |
| Kompromisse einzugehen, etwa mit dem Gewerkschaftsboss Hugo Moyano. | |
| Mehrheitsfähige Bündnisse auf programmatischer Basis gibt es in | |
| Lateinamerikas fast nie, auch wegen der chronischen Schwäche der | |
| Linksparteien. Uruguays "Breite Front", 1971 gegründet und seit 2005 an der | |
| Macht, bildet die große Ausnahme. | |
| Viel typischer sind starke Führungsfiguren, fortschrittliche Caudillos, | |
| auch wenn das eigentlich ein Widerspruch in sich ist: Chávez, Lula, der | |
| Bolivianer Evo Morales, Rafael Correa aus Ecuador oder eben Kirchner, der | |
| es als Staatschef ab 2003 und als Schattenpräsident seit 2007 verstand, mit | |
| feinem Gespür und Geld Loyalitäten herzustellen. Und auch Freundschaften zu | |
| opfern, wenn er meinte, sie stünden seinem Projekt im Wege. | |
| Dass die Kirchners vor drei Jahren die Präsidentschaftsnachfolge unter sich | |
| ausmachten, passt da ins Bild. Ebenso autoritär und im Alleingang erkor | |
| Lula vor drei Jahren seine loyale Ministerin Dilma Rousseff zur | |
| Nachfolgerin - gestern segneten die BrasilianerInnen das Manöver an den | |
| Wahlurnen ab. | |
| Doch Kirchners Politik stand auch für eine soziale Wende in Argentinien. | |
| Anstatt die Polizei auf Streikende oder Straßenblockierer zu hetzen, wie | |
| dies seine Vorgänger taten, ging Kirchner auf die rebellische Basis mit | |
| Sozialprogrammen zu. "Sie sollen alle abhauen", skandierten vor neun Jahren | |
| die aufgebrachten Massen gegen Eliten und Regierende. Heute trauern von | |
| ihnen viele um einen Machtmenschen wie Kirchner. | |
| Sie lieben den Polarisierer, weil er und Cristina sich mit den mächtigen | |
| Farmern des Landes anlegten, die im Gegenzug monatelang alles stilllegten - | |
| die womöglich größte Niederlage der Präsidentin Kirchner. Populär an der | |
| Basis sind auch die anhaltenden Auseinandersetzungen mit den mächtigen | |
| Medienkonzernen, deren Vermögen teilweise aus der Diktatur stammt. | |
| Kirchners Politik hat vor allem die argentinische Jugend sehr stark | |
| politisiert. Und so ist jetzt ausgerechnet der meist linkisch wirkende, | |
| schielende Patagonier mit Vorfahren aus der Schweiz, Deutschland, Kroatien | |
| und Spanien jetzt im Schnellverfahren ins Pantheon argentinischer Helden | |
| aufgestiegen - zu Carlos Gardel, José Domingo, Evita Perón und Ernesto | |
| "Che" Guevara. | |
| Anders als der idealistisch Dauerrevolutionär Guevara konnte der "Pinguin" | |
| allerdings mit Geld umgehen, zum Wohle seiner Herkunftsprovinz Santa Cruz | |
| und später ganz Argentiniens. Die Wirtschaftspolitik betrachtete er bis | |
| zuletzt als Chefsache - bisweilen unorthodox und zumeist durchaus sehr | |
| pragmatisch. Er brachte das gebeutelte Land wieder auf die Beine, sorgte | |
| nach Kräften für sozialen Ausgleich, machte viele Privatisierungen | |
| rückgängig und ärgerte mit protektionistischen Maßnahmen die Anhänger des | |
| Freihandels bis hin zu seinen Mercosur-Nachbarn Uruguay und Brasilien. | |
| Dass die Kirchners ganz nebenbei auch ihr eigenes Vermögen beträchtlich | |
| mehrten, geriet ihnen nicht zum Nachteil - in Lateinamerika glaubt heute | |
| kaum jemand mehr an den asketischen "neuen Menschen". Auch den | |
| Antiimperialismus der Sechzigerjahre goss Néstor Kirchner in eine | |
| zeitgemäße Form. Sich mit Investoren und dem Internationalen Währungsfonds | |
| anzulegen wirkt viel radikaler, als abstrakt auf die USA zu schimpfen. Im | |
| September 2006 durfte er an der Wall Street sogar das berühmte Glöckchen | |
| zum Auftakt der Börsengeschäfte läuten. | |
| Zermürbender Redner | |
| Eines seiner größten Verdienste bleibt es, Ende 2005 als Gastgeber des | |
| Amerikagipfels zusammen mit Lula und Chávez die Freihandelszone von Alaska | |
| bis Feuerland endgültig begraben zu haben, jenes Lieblingsprojekt | |
| Washingtons und der Multis. In der "Schlacht von Mar del Plata", erinnert | |
| sich Chávez, sei Kirchner die Idee gekommen, wie George W. Bush in der | |
| Schlusssitzung zu zermürben sei. Kirchner habe ihn beiseitegenommen und | |
| gesagt: "Ich werde dir das Wort erteilen, du Vielredner." So kam es, und | |
| der US-Präsident entschloss sich schließlich genervt vorzeitig abzureisen. | |
| Es war keine Schmeichelei, als Brasiliens Außenminister Celso Amorim | |
| Kirchner jetzt als den "entscheidenden Protagonisten" der südamerikanischen | |
| Integration würdigte. Zum Generalsekretär des neuen Staatenbundes Unasur | |
| war er gewählt worden, nachdem sein uruguayischer Intimfeind Tabaré Vázquez | |
| vom konzilianten Extupamaro José Mujica abgelöst wurde. | |
| Vor dem Amtsantritt des kolumbianischen Präsidenten Juan Manuel Santos trug | |
| Kirchner außerdem zu dessen Aussöhnung mit Chávez bei. Vorsichtig | |
| signalisiert der Kolumbianer bereits, dass er auf Venezuela zugehen werde, | |
| sich von der Rolle als bedingungsloser Gefolgsmann der US-Regierung | |
| emanzipieren wolle. | |
| Noch etwas hatte der "Pinguin" mit all seinen linken oder weniger linken | |
| lateinamerikanischen Kollegen gemein: den bedingungslosen Glauben, dass die | |
| Voraussetzung für größere soziale Gerechtigkeit in möglichst "chinesischen" | |
| Wirtschaftsraten liege. Für Argentinien hieß das: hemmungsloser Export von | |
| Agrargütern, Erdöl und mineralischen Rohstoffen. | |
| 31 Oct 2010 | |
| ## AUTOREN | |
| Gerhard Dilger | |
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