| # taz.de -- Lesesäle der Republik: Bibliotheken voller als die Bundesliga | |
| > Der Bibliotheksverband schlägt Alarm: Obwohl die Bibliotheken von 200 | |
| > Millionen Nutzern jährlich überrannt werden, streichen Länder und | |
| > Kommunen die Budgets zusammen. | |
| Bild: Schlau und schön: Lesezentrum im Bücherkubus der Herzogin Anna Amalia B… | |
| "Hier kann man nicht Chef spielen!", sagt Dagmar Sonnenkalb, Leiterin der | |
| Gemeindebücherei Teutschental im Saalkreis, Sachsen-Anhalt. Sie lacht - und | |
| dann putzt die Bibliothekarin die lang gestreckten Räume ihrer Einrichtung | |
| selbst. Sie muss das "Hotel Fantasia" nach einer Lesenacht wieder in eine | |
| öffentliche Bibliothek zurückverwandeln. | |
| Am Nachmittag wird hier die Vernissage für die neue Fotoausstellung | |
| stattfinden. Gleich kommen die Kinder, die ihren Bibliotheksführerschein | |
| machen wollen. Sonnenkalb und ihre Mitarbeiter bespielen die Räume mit | |
| Handpuppen. So vermitteln sie den Kindern, was eine Bibliothek kann. | |
| Die Teutschentaler Gemeindebücherei ist sehr aktiv. 150 Veranstaltungen | |
| stemmen die Bibliotheksleiterin und ihre zwei Mitarbeiter im Jahr. Die | |
| Bücherei übernimmt außerschulische Bildungs-, Kultur- und Sozialaufgaben. | |
| In den Räumen mit selbstgezimmerten Regalen und alten Möbeln stehen drei | |
| Internetplätze zur Verfügung, seit 1994 schon ist hier alles auf Computer | |
| umgestellt. Neben Büchern gehören CDs, DVDs, MCs, Spiele und Videos zu den | |
| 35.000 Medien, die für rund 10.000 Einwohner bereitstehen. 3,5 Medien pro | |
| Kopf, das ist überdurchschnittlich für deutsche Verhältnisse. | |
| Ortsbüchereien sterben | |
| Es sieht schlecht aus für Deutschlands Bibliotheken. Erstmals gab nun der | |
| Deutsche Bibliotheksverband (dbv) in einem Bericht zur Lage bekannt, wie es | |
| um die Bibliotheken in Deutschland steht. Nur 41 Prozent des ohnehin dünnen | |
| deutschen Bibliotheksnetzes erfüllen die Mindeststandards. Das sind: Zwei | |
| Medien pro Einwohner, egal wie alt diese Medien sind. Die öffentlichen | |
| Bibliotheken zählen mit 200 Millionen Nutzern im Jahr zu den bestbesuchten | |
| Einrichtungen in Deutschland. Ins Kino gehen jährlich 146,3 Millionen | |
| Menschen, die Spiele der 1. und 2. Fußballbundesliga werden nur von 17,6 | |
| Millionen besucht. In den letzten Jahren stiegen die Besucherzahlen und die | |
| Entleihungen in Bibliotheken stetig an. Selbst bei Migranten sind die | |
| Lesehäuser beliebt. Rund 20 Prozent der Bibliotheksnutzer sind junge | |
| Menschen mit Migrationshintergrund - das entspricht ihrem Anteil bezogen | |
| auf die deutsche Gesamtbevölkerung. | |
| Bei den meisten der kommunalen und städtischen Bibliotheken reichen die | |
| Mittel allerdings nicht mal mehr für die Grundausstattung. Kürzungen oder | |
| das Einfrieren des Medienetats sind an der Tagesordnung. Das setzt einen | |
| Teufelskreis in Gang, bei dem die Öffnungszeiten verkürzt und der Service | |
| schlechter werden. | |
| "Das Kernproblem ist eine nicht hinreichende Ausfinanzierung der kommunalen | |
| Haushalte", erklärt Harald Pilzer, Vorsitzender des Bibliotheksverbandes | |
| von Nordrhein-Westfalen. NRW hat es hart getrofffen: In Essen und Duisburg | |
| werden bis auf weiteres keine neuen Medien mehr angeschafft, in Hagen | |
| müssen die zwei verbliebenen Stadtbibliotheksfilialen geschlossen werden. | |
| Schließungen gibt es auch in Herne und Bottrop. Es findet so etwas wie eine | |
| kulturelle Kernschmelze statt. Die Liste ließe sich fortsetzen, quer durchs | |
| ganze Bundesgebiet. Schlimmer sieht es nur noch in Mecklenburg-Vorpommern | |
| aus, dem Land, wo ganze Orte und auch die Bibiotheken sterben. | |
| Dabei stellen Bibliotheken das bereit, was so dringend gebraucht wird: | |
| Informations- und Medienkompetenz. Bibliothekare sind längst nicht mehr nur | |
| die Wissensverwalter des vordigitalen Zeitalters, sie wissen, wo man welche | |
| Information finden kann und wie welche Informationen zu bewerten sind. Ein | |
| Wissen, was heute schon früh gefordert wird. So stehen an Deutschlands | |
| Schulen schon von der ersten Klasse an Referate und das Gestalten von | |
| Themenplakaten auf der Tagesordnung. Dass man heute die nötigen | |
| Hintergründe zunächst im Internet sucht, ist eine Selbstverständlichkeit. | |
| Aber kaum jemand vermag zu sagen, wie fundiert und sachlich die | |
| Informationen sind, die Suchmaschinen wie Google oder Online-Lexika wie | |
| Wikipedia auswerfen. Selbst Lehrer geraten bei dieser Frage ins Schleudern. | |
| Weil viele Bibliothekare diese Kompetenz besitzen, sind Kooperationen von | |
| Bibliotheken und Schulen wichtig. "Bibliothek und Schule, Schule und | |
| Bibliothek gehören zusammen," fasst Frank Simon-Ritz, Direktor der | |
| Universitätsbibliothek Weimar und zweiter Vorsitzender des | |
| Bibliotheksverbandes zusammen. So wie Universität und Bibliothek. Während | |
| niemand auf die Idee käme, diesen Zusammenhang anzuzweifeln, scheint es den | |
| lokalen Entscheidungsträgern besonders schwerzufallen, schulische | |
| (Selbst-)Bildung und Bibliotheken zwangsläufig zusammenzudenken. | |
| Unibibliotheken erstrahlen | |
| Die Unterschiede zwischen den länderfinanzierten Hochschulbibliotheken und | |
| den städtischen und kommunalen Bibliotheken sind enorm. Erstrahlen | |
| Universitätsbibliotheken in aufsehenerregender Gestaltung namhafter | |
| Architekten, basteln sich kommunale Bibliotheken wie die von Teutschental | |
| ihre Ausstattung selber. Der Neubau der Bauhaus-Universitätsbibliothek in | |
| Weimar etwa eckt mit seiner schräg in die historische Stadtlandschaft | |
| gesetzten kahlen Putzfassade gewollt an, der Münchner Architekt Andreas | |
| Meck hat ihn entworfen. Der zweiflügelige Bau bietet seinen Studenten | |
| lichtdurchflutete Arbeitsplätze und multimedial ausgestattete Gruppenräume | |
| von schlichter Eleganz. | |
| Gut, wenn sich Prestigeobjekte wie diese zum Schulterschluss mit den | |
| städtischen Bibliotheken entschließen. Für das Projekt "Wissen erobern" | |
| haben sich in Weimar wissenschaftliche und städtische Bibliotheken | |
| zusammengetan. Um auch Schülern zu vermitteln, wie man die Literatur und | |
| die Informationsdienstleistungen einer Bibliotheken für sich nutzbar machen | |
| kann, bietet die Unibibliothek Weimar allen Gymnasiasten der zehnten Klasse | |
| eine Einführung in reale und virtuelle Recherchemöglichkeiten und klärt | |
| über die Vorzüge verschiedener Quellen auf. Neu daran ist die | |
| verpflichtende Teilnahme als Bestandteil des Lehrplans. Weil die Aktion | |
| auch bei den Lehrern an der Neugier kratzte, erhalten auch sie seit diesem | |
| Jahr einen ganz auf sie zugeschnittenen "Wissenseinstieg". | |
| Eine derartige Kooperation zwischen öffentlichen und | |
| Wissenschaftsbibliotheken mit Unterstützung des Schulamtes macht die | |
| Potenziale deutlich, die in der Traditionsinstitution Bibliothek stecken: | |
| Sie sind weit mehr als die Nachlassverwalter der Gutenberg-Revolution, | |
| sondern die Vermittler jedweder Informations- und Medienkompetenz. | |
| Die großen Unterschiede in der Finanzierung entstehen dadurch, dass | |
| Bibliotheken als freiwillige Aufgaben der Kommunen gelten, wie sämtliche | |
| anderen Kultureinrichtungen auch. Anders als bei den Pflichtaufgaben, etwa | |
| den Unterhalt von Schulen, für die Städte, Länder und Gemeinden sogar | |
| Schulden machen dürfen, kann hier gespart werden. Dass Bibliotheken als | |
| außerschulische Bildungspartner eine wichtige Rolle spielen können, zeigen | |
| viele Kooperationen. Diese stehen aber auf der Kippe, wenn die Bibliotheken | |
| so ungenügend ausgestattet sind, dass Informations- und Medienkompetenz in | |
| ihnen nicht mehr zu vermitteln ist. | |
| "Wir brauchen Bibliotheksgesetze, die die Finanzierung von Standards regeln | |
| und die Länder zur Beteiligung verpflichten", fordert Monika Ziller, | |
| Vorsitzende des Bibliotheksverbandes - und kritisiert im selben Atemzug die | |
| drei in den letzten Jahren verabschiedeten Bibliotheksgesetze. Thüringen | |
| hat in seinem Bibliotheksgesetz zwar Bibliotheken zu Bildungseinrichtungen | |
| erklärt, aber da man sich nicht zu einer Festschreibung bestimmter | |
| Standards für die Bibliotheken entschließen wollte, biete das Gesetz | |
| gegenüber dem vorherigen Zustand nur wenig Verbesserung. Immerhin war | |
| Thüringen Vorreiter, dem in diesem Jahr Sachsen-Anhalt und Hessen gefolgt | |
| sind. Auch in Schleswig-Holstein liegt derzeit ein Gesetzentwurf auf dem | |
| Tisch, dessen konkrete Formulierungen die Hoffnungen des Verbandes wecken. | |
| Was davon bis zur Verabschiedung übrig bleibt und ob das Bibliotheksgesetz | |
| überhaupt durchkommen wird, ist noch unklar. In Brandenburg war 2007 ein | |
| Bibliotheksgesetz abgelehnt worden. Festgeschriebene Fördersummen und | |
| Standards würden Bibliotheken in ihrer Entfaltung und ihren Spielräume | |
| einengen, so die Argumentation. | |
| Es fragt sich jedoch, wie viel Möglichkeiten zur Entfaltung bleibt, wenn | |
| kein Geld mehr da ist. Ähnlich absurd sind die Vorwürfe, mit denen in | |
| Hamburg das Sparen bei Bibliotheken gerechtfertig wird: "Die Hamburger | |
| Öffentlichen Bücherhallen sind der zweitgrößte Zuwendungsempfänger | |
| innerhalb des Haushalts der Behörde. Sie haben gleichzeitig die niedrigste | |
| Deckungsquote", so die Senatspressemitteilung. Dass die Deckungsquote im | |
| Falle von Bibliotheken gering ist, wundert jedoch nicht, schließlich | |
| bezahlt man - anders als beim Gang ins Theater oder Museum - keinen | |
| Eintritt. Dabei sind ausgerechnet die Hamburger Bücherhallen die | |
| Bibliotheken, die ihren Nutzern die höchsten Jahres- und die Mahngebühren | |
| abverlangen. | |
| Kostenlos ist die Ausleihe dagegen in der Teutschentaler Gemeindebücherei, | |
| lediglich der Benutzerausweis kostet einmalig 1 Euro. Für André Herzog, dem | |
| parteilosen, 36-jährigen Bürgermeister von Teutschental, ist ein festes | |
| Budget für die Bücherei ein unbedingtes Muss. Als "bürgerschaftliche | |
| Basisarbeit" sieht er seinen Einsatz für die Bibliothek, in der er sich | |
| regelmäßig als Vorleser betätigt. | |
| 3 Nov 2010 | |
| ## AUTOREN | |
| Sarah Wildeisen | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Wenn Gemeinden teuer privatisieren: Schuld sind nicht die Neoliberalen | |
| Die taz-Enthüllung der Berliner Wasserverträge zeigt: Verkaufen Kommunen an | |
| Private, verlieren meist die Bürger. Doch oft haben die Gemeinden gar keine | |
| andere Wahl. | |
| Anonymes Ableben: Tote ohne Heimat | |
| Aus Kostengründen beerdigen Kommunen Tote ohne Angehörige oft anonym. Dabei | |
| gibt es in Deutschland ein Recht auf menschenwürdige Bestattung. |