# taz.de -- Timothy Garton Ash über Religionen: "Fort mit den Tabus" | |
> Bei der Meinungsfreiheit haben wir zu viele Zugeständnisse gemacht, sagt | |
> der Historiker Timothy Garton Ash. Beim Kopftuch und Minarett waren wir | |
> dagegen zu kompromisslos. | |
Bild: Wenn Symbole konkurrieren. | |
taz: Herr Garton Ash, hat man in Oxford schon von Thilo Sarrazin gehört? | |
Timothy Garton Ash: Ich habe das Buch zum großen Teil sogar gelesen. Mir | |
kommt dabei Kant in den Sinn. Dass Könige Philosophen werden, ist nicht zu | |
wünschen. Das gilt auch für Bankiers. | |
Also ist die Aufregung berechtigt? | |
Die richtige Reaktion wären ein paar sachliche Rezensionen gewesen, nicht | |
die große Medienkontroverse. Aber im Grunde haben wir alle unsere | |
Sarrazin-Debatten - ob in Frankreich, in Großbritannien oder in den | |
Niederlanden. | |
Zeigen diese Debatten auch: Endlich machen sich die Leute klar, dass sie in | |
einer Einwanderungsgesellschaft leben? | |
Sie zeigen die Schwierigkeit, solche Debatten in der Zeit des Infotainment | |
ernsthaft zu führen. Weil die Medien immer auch unterhalten müssen, hat man | |
den großen Krach am liebsten. Die Atheistin Ayaan Hirsi Ali gegen den | |
islamistischen Reformer Tariq Ramadan. Als ob es in einer freien | |
Gesellschaft nicht Platz für beide gäbe! | |
Es gibt gar kein Problem? | |
In der Substanz ist die Integration tatsächlich noch nicht gelungen. Es | |
gibt eine beträchtliche Minderheit, mindestens zehn Prozent der | |
europäischen Muslime, die zwischen alter und neuer Heimat hin und her | |
gerissen ist. | |
Das ist ein normales Migrationsphänomen. | |
Schon, aber die Intensität der tagtäglichen Berührung mit der alten Heimat | |
hat heute eine neue Qualität - durch das Satellitenfernsehen, durch das | |
Internet, auch durch das billige Reisen. Heute kann man faktisch in zwei | |
Ländern gleichzeitig leben. Diese Menschen, die in einer Art kultureller | |
Schizophrenie leben, für die Spielregeln einer freien Gesellschaft zu | |
gewinnen: das ist die Aufgabe von uns allen, auch im Alltag. | |
Inwiefern? | |
Was besonders abstößt und schmerzt, ist oft der Rassismus im Kleinen. Auf | |
dem Arbeitsmarkt zum Beispiel. | |
Die deutschen Zeitungsredaktionen sollen nicht Sarrazin kritisieren, | |
sondern Deutschtürken als Redakteure einstellen? | |
Sarrazin kritisieren schon - aber in der Tat: Hier in Deutschland fällt mir | |
auf, wie einfarbig zum Beispiel das Fernsehen immer noch ist. Im Gegensatz | |
zum britischen. Es ist dort so kunterbunt wie London. | |
Ist der Islam eine spezifische Integrationsbarriere? | |
Der Schweizer Historiker Jacob Burckhardt hat schon im vorletzten | |
Jahrhundert vor den schrecklichen Vereinfachern gewarnt. Einen | |
einheitlichen Islam im Sinne eines politischen Phänomens gibt es nicht. Es | |
gibt beträchtliche Integrationsprobleme, das stimmt. Aber sie liegen bei | |
Türken in Berlin-Neukölln anders als bei Kashmiris im nordenglischen | |
Bradford. Und es ist für einen gläubigen Muslim einfacher, sich in den USA | |
als Religiöser unter Religiösen zu integrieren als im säkularisierten | |
Europa. | |
Sie werfen den radikalen Islamkritikern einen Fundamentalismus der | |
Aufklärung vor. | |
Den Begriff benutze ich nicht mehr, weil er als Gleichsetzung mit | |
Terrorismus missverstanden werden kann. Ich bin ein großer Befürworter von | |
Aufklärung und kritischer Vernunft. Nur geben uns die Philosophen der | |
Aufklärung keine eindeutige Antwort auf die Frage des Umgangs mit der | |
Religion. Es gibt riesige Unterschiede, etwa zwischen der Lösung von Locke, | |
Freiheit für die Religion, weitgehend verwirklicht in den USA. Und der | |
Lösung von Voltaire, Freiheit von der Religion, widergespiegelt im | |
französischen Laizismus. Heute müssen wir uns selber zu zeitgerechten | |
liberalen Lösungen durcharbeiten. Genau das versuche ich in den | |
entsprechenden Abschnitten meines neuen Buchs. | |
Und das deutsche Modell einer engen Verquickung zwischen dem Staat und zwei | |
oder drei staatsnahen Kirchen? | |
Lassen Sie es mich mit Lampedusas Romanfigur sagen, dem sizilianischen | |
Fürsten Salina: Die Dinge müssen sich ändern, damit sie gleich bleiben | |
können. Was Einwanderer besonders stört, sind doppelte Standards. | |
Etablierte Kirche für das Christentum, aber nicht für den Islam. Das gilt | |
auch für Tabus. Hier Kriminalisierung der Holocaustleugnung, aber freies | |
Feld für Mohammedkarikaturen. | |
Das heißt? | |
Wir müssen uns entscheiden. Entweder gehen wir den Weg einer | |
Multiplizierung der Tabus. Dann bleibt herzlich wenig übrig, worüber wir | |
noch sprechen können. Oder wir gehen den konsequent liberalen Weg, das | |
heißt, auch eigene Tabus abzubauen. Ich bin sehr für den zweiten Weg. | |
Wenn die deutsche Kanzlerin den Mohammedkarikaturisten belobigt, hätte sie | |
den Papst für seine Duldsamkeit gegenüber Holocaustleugnern nicht maßregeln | |
dürfen? | |
Ich halte die Meinungsfreiheit für ein Schlüsselthema in dieser Debatte. | |
Auf diesem Gebiet, wo es wirklich um Grundprinzipien geht, haben wir im | |
Zuge des sogenannten Multikulturalismus zu viele Zugeständnisse gemacht. | |
Dafür sind wir bei zweitrangigen Fragen zu kompromisslos. Oder ist es etwa | |
ein liberales Essential, dass man keine Minarette sieht? | |
Gilt das auch für das Kopftuch? | |
Das Prinzip der individuellen Freiheit besagt: Ich bin frei zu denken, was | |
ich will, zu sagen, was ich will, und zu tragen, was ich will. Solange es | |
die Freiheit von anderen nicht beeinträchtigt. Das ist eine persönliche | |
Wahl. Schauen Sie sich doch den Band des Fotografen Henri Cartier-Bresson | |
über die Europäer an, mit Bildern aus den 1930er bis 1970er Jahren. Jede | |
zweite Frau trägt ein Kopftuch, vor allem auf den katholischen Land. Jetzt | |
sagen wir auf einmal: Es gehört zum Wesen einer freien Gesellschaft, dass | |
man kein Kopftuch trägt? Was für ein Unsinn! | |
Nun gehört auch die katholische Kirche nicht zu den Freunden des | |
Liberalismus. | |
Die katholische Kirche setzte den Liberalismus sogar auf ihren Syllabus der | |
Irrtümer. Erst auf dem Zweiten Vatikanischen Konzil hat sie sich mit ihm | |
versöhnt, und selbst dann nur mit Mühe. | |
Eine Spannung zwischen Religion und Liberalismus bleibt? | |
Selbstverständlich. Alle Religionen laufen letzlich auf absolutistische | |
Grundsätze hinaus. Nehmen wir das Beispiel Homosexualität. Auch viele | |
Christen glauben, sie sei eine Sünde. Die Frage lautet: Ist man imstande, | |
zwischen geistlicher Sünde und weltlichem Verbrechen zu unterschieden? Dazu | |
sind inzwischen die meisten Christen bereit, wenn auch nicht alle. | |
Tolerieren kann man nur Dinge, die man eigentlich unerträglich findet? | |
Goethe sagt irgendwo: Tolerieren heißt beleidigen. Weil es etwas anderes | |
als volle Anerkennung ist. Aber ich bin sehr für Toleranz. Und ich bin sehr | |
für die offene, aber zivilisierte Austragung von Konflikten. | |
Deutsche Konservative reden neuerdings gerne vom christlich-jüdischen | |
Abendland. Ist das ein sinnvoller Begriff? | |
Wenn man die Geschichte Deutschlands und seiner Juden bedenkt: Dann ist es | |
schon problematisch, das Jüdische plötzlich auf diese Weise für sich zu | |
instrumentalisieren. Trotzdem dürfen wir unsere eigene europäische | |
Geschichte nicht der heutigen Harmonie wegen verfälschen. Dass sich Europa | |
über Jahrhunderte gegen den Islam definiert hat, ist nun mal eine Tatsache. | |
Viele Historiker fassen den Islam neuerdings als Teil Europas auf - im | |
Mittelalter ohnehin, aber auch in der Neuzeit mit dem Osmanischen Reich als | |
Teil des Mächtekonzerts. Ist das alles falsch? | |
Man muss die Geschichte doch schreiben, wie man sie in den Quellen findet. | |
Um nicht mit dem deutschen Historiker Leopold von Ranke zu sagen: Wie sie | |
eigentlich gewesen ist. Und sie nicht teleologisch für heutige Zwecke | |
instrumentalisieren. | |
Nun gab es in Europa nicht nur das Christentum, sondern auch Antike und | |
Aufklärung. | |
Das gehört dazu, sicher. Trotzdem wäre ich dafür gewesen, das christliche | |
Erbe in die Präambel des europäischen Verfassungsvertrags aufzunehmen, als | |
Hinweis auf die Geschichte. | |
Nicht für die Gegenwart? | |
Ausgerechnet Europa soll sich als Christenclub definieren? Der am meisten | |
säkularisierte Kontinent der Welt? Das wäre doch absurd! | |
7 Nov 2010 | |
## AUTOREN | |
Ralph Bollmann | |
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