# taz.de -- Parteitag der Grünen: Sehnsucht nach mehr Gleichheit | |
> Die Grünen wollen in Freiburg ihr Programm aufpolieren und damit | |
> inhaltlich aufrüsten - bevor der Hype um sie wieder vorbei ist. Als | |
> Erstes ist die Gesundheitspolitik dran. | |
Bild: Werden die Umfragewerte zu einer Luftnummer, oder können sich die Grüne… | |
Symbolreicher hätten es die Grünen kaum halten können. Ausgerechnet in | |
Freiburg hält die Partei ab Freitag ihre erste Bundesdelegiertenkonferenz | |
seit Beginn ihres Umfragehochs ab. Die schmucke Universitätsstadt regiert | |
seit acht Jahren ein Grüner Oberbürgermeister. Wenige Kilometer weiter, in | |
dem Örtchen Wyhl, einte in den 70er Jahren der Widerstand gegen ein | |
geplantes Atomkraftwerk eine breite Front Bürgerbewegter - einer der | |
Vorläufer der Grünen entstand. | |
Und in der Landeshauptstadt könnte im Frühjahr ein Grüner erstmals | |
Ministerpräsident werden. Auf dem Freiburger Parteitag muss die Partei | |
wieder einen Weg finden, wie sie Oppositionsgestus und | |
Regierungspragmatismus vereinen kann. Es wird höchste Zeit. | |
Denn in Umfragen haben die Grünen seit Jahresbeginn stetig zugelegt. Bei | |
allen führenden Meinungsforschungsinstituten liegen sie zwischen 20 und 23 | |
Prozent. Damit sind sie in die Gefilde der sogenannten Volksparteien | |
vorgedrungen. Doch die Nachfrage nach den Grünen übersteigt das Angebot. | |
In Umfragen mögen sie SPD und CDU nahe kommen. Ihr Programm aber ist nicht | |
so breit angelegt und detailliert ausgearbeitet, wie es viele | |
Sympathisanten unterstellen. Insbesondere in der Sozialpolitik, gestehen | |
selbst führende Grüne ein, klafft eine große Lücke. Diese soll sich nun | |
langsam schließen. Auf dem Parteitag im kommenden Jahr soll es vorrangig um | |
Bildung und Integration gehen. Den Anfang macht in Freiburg die | |
Gesundheitspolitik. | |
Auf 15 Seiten hat der Bundesvorstand zusammengetragen, was bei den Grünen | |
bislang vor allem Schlagworte gewesen sind: Prävention, Barrierefreiheit | |
und medizinische Versorgung auf dem Land. Vor allem aber: | |
"Bürgerversicherung". Schon unter Rot-Grün schmückte das Wort die | |
Forderung, private Krankenversicherer de facto abzuschaffen und so auch | |
Freiberufler und Gutverdiener in den Topf der gesetzlichen | |
Krankenversicherung einzahlen zu lassen - immerhin 10 Millionen der | |
insgesamt 80 Millionen Versicherten im Land. | |
Der Umbau soll zum einen dem chronisch defizitären System mehr Geld | |
bringen. Allein in diesem Jahr brauchen die gesetzlichen Kassen rund 15 | |
Milliarden Euro extra vom Bund. Zum anderen entspricht die versprochene | |
Abschaffung der "Zweiklassenmedizin" Sehnsüchten in der Partei nach mehr | |
gesellschaftlicher Gleichheit. SPD und Linkspartei versprechen Ähnliches, | |
weshalb in dem Antrag nun von der "Grünen Bürgerversicherung" die Rede ist. | |
An der Finanzierung würden "alle Einkommensarten beteiligt - neben den | |
Einkommen aus abhängiger Beschäftigung auch die Einkommen aus | |
Kapitalanlagen, Vermietung und Verpachtung sowie Gewinne". | |
Beim Geld hört auch bei den Grünen die Einigkeit auf. Strittig ist noch | |
immer, wo die Beitragsbemessungsgrenze künftig liegen soll. Bislang liegt | |
sie bei 3.750 Euro Bruttogehalt pro Monat. Der Vorstand schlägt zwei | |
Varianten vor: entweder eine Anhebung bis zum heutigen Niveau der | |
Beitragsbemessungsgrenze der gesetzlichen Rentenversicherung im Westen, | |
also 5.500 Euro. Oder nur auf 4.162,50 Euro. Ab diesem | |
Bruttomonatseinkommen können Angestellte derzeit in eine Privatversicherung | |
wechseln. Beides würde die Klientel der Grünen Geld kosten, zählen zu ihr | |
doch überdurchschnittlich viele Gutverdiener. | |
Vor der Auseinandersetzung mit der Versicherungslobby und dem zögerlichen | |
Koalitionspartner SPD schreckten die Grünen in der Regierungsverantwortung | |
zurück. Koparteivorsitzende Claudia Roth verspricht, das zu ändern. | |
Mit der Konzentration auf die Gesundheitspolitik lenkt die Parteitagsregie | |
geschickt von parteiinternen Streiten ab. Das Treffen der 820 Delegierten | |
soll den Ton vorgeben für ein aufreibendes Wahlkampfjahr 2011 mit | |
mindestens sechs Landtags- und drei Kommunalwahlen. Bereits im März geht es | |
in Rheinland-Pfalz und Sachsen-Anhalt um den Einzug ins Landesparlament, im | |
für die Grünen immens wichtigen Baden-Württemberg gar um den Posten des | |
Ministerpräsidenten. Obendrein droht ein vorzeitiges Ende der rot-grünen | |
Minderheitsregierung in Nordrhein-Westfalen. | |
Mit strittigen Themen, zum Beispiel über das Ob und Wie eines Truppenabzugs | |
aus Afghanistan, will sich die Partei nicht belasten. Allerdings hat die | |
[1][Debatte über die Zukunft des geplanten Atomendlagers in Gorleben] das | |
Potenzial, die verordnete Ruhe zu stören. Ein anderes mögliches Problem, | |
die Grünen-Position im Nahostkonflikt, hofft die Parteiführung gelöst zu | |
haben. Auf neun Antragsseiten voll wohlabgewogener Worte wiederholt der | |
Bundesvorstand die überparteilich unstrittige Forderung nach einer | |
Zweistaatenlösung. | |
18 Nov 2010 | |
## LINKS | |
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## AUTOREN | |
Matthias Lohre | |
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