# taz.de -- Möglicherweise verfassungswidrig: Juristen kritisieren Hartz-IV-S�… | |
> Vor dem Beschluss im Parlament zu den neuen Regelsätzen für die Bezieher | |
> von Hartz IV melden sich Sozialrechtler zu Wort: Die Koalition habe | |
> unsauber gerechnet. | |
Bild: Proteste gegen Hartz IV in Berlin. | |
Ralf Brauksiepe ist sich sicher: Die Koalition habe die neuen Regelsätze | |
für die Bezieher von Hartz IV "sauber" gerechnet, sagte der | |
Parlamentarische Staatssekretär der Union im Bundesarbeitsministerium | |
vergangene Woche. Um fünf Euro, von 359 auf 364 Euro im Monat, soll Hartz | |
IV ab 2011 für Erwachsene steigen. Die Kinderregelsätze ändern sich nicht. | |
Doch Anne Lenze, Professorin für Sozialrecht an der Hochschule Darmstadt, | |
übt Kritik: "Ich gehe davon aus, dass Karlsruhe Teile des Gesetzes nicht | |
akzeptieren wird, die Regierung es aber trotzdem verabschiedet. Es zeigt | |
sich ja häufiger, dass die Politik das Risiko eingeht, vor dem | |
Verfassungsgericht zu scheitern. Denn es dauert, bis Karlsruhe erneut | |
entscheidet, und in dieser Zeit hat man Geld gespart." | |
Das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe hatte im Februar die bisherige | |
Berechnung der Regelsätze für verfassungswidrig erklärt und eine | |
transparente Neuberechnung bis Ende 2010 gefordert. Lenze bezweifelt, dass | |
die Vorgaben Karlsruhes mit dem neuen Gesetz erfüllt werden. | |
Und sie ist nicht die Einzige. "Nach meiner Überzeugung läuft der | |
Gesetzgeber ins offene Messer. Je tiefer man in die Details des | |
Gesetzesentwurfs einsteigt, desto größer werden die Zweifel", sagt auch | |
Jürgen Borchert, hessischer Sozialrichter. Lenze und Borchert, die | |
vergangene Woche als Sachverständige vor dem Bundestagsausschuss Arbeit und | |
Soziales gesprochen haben, benennen mehrere Kritikpunkte. | |
Da sei zum einen die veränderte Referenzgruppe. Zur Berechnung des neuen | |
Regelsatzes für alleinstehende Erwachsene wurden die Daten der Einkommens- | |
und Verbrauchsstichprobe (EVS) 2008 ausgewertet, was Menschen, die zu den | |
untersten 15 Prozent der Einkommensbezieher gehören, täglich ausgeben. | |
Bei der letzten Berechnung hatte die Regierung noch die untersten 20 | |
Prozent als Referenzgruppe herangezogen. Dass es jetzt nur noch 15 Prozent | |
sind, sei vielleicht noch nicht verfassungswidrig, sagt Lenze. "Aber wenn | |
man schon so niedrig einsteigt, sind alle anderen verfassungsrechtlichen | |
Einwände, die Karlsruhe gemacht hat, umso schärfer zu prüfen. Es muss ein | |
menschenwürdiges Existenzminimum garantiert werden." | |
So kommt der zweite Punkt ins Spiel: Die Regierung hat die "verdeckten | |
Armen" nicht aus der EVS herausgerechnet. "Obwohl das Statistische | |
Bundesamt und das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung gesagt | |
haben, dass man die Zahl ermitteln kann", stellt Lenze klar. "Verdeckte | |
Arme" sind Menschen, die ein so niedriges Einkommen haben, dass sie | |
Anspruch auf Hartz IV hätten, aus Unwissenheit oder Scham dieses Geld aber | |
nicht beantragen. 4,9 Millionen "verdeckte Arme" könnte es laut Schätzungen | |
von Volkswirten geben. | |
Eine beachtliche Zahl, die zu Zirkelschlüssen in der Berechnung führen | |
würde: Die, die noch weniger als Hartz IV haben, bestimmen durch ihr | |
Ausgabeverhalten, was Hartz-IV-Bezieher bekommen sollen. | |
Der Berliner Sozialrechtler Johannes Münder bemängelt auch, dass zu viele | |
Leistungen aus dem neuen Regelsatz gestrichen wurden, darunter Geld für | |
Alkohol, Tabak, Blumen, Gartengeräte oder die chemische Reinigung. Dadurch | |
gelinge es Hartz-IV-Empfängern nicht mehr, auf etwas zu verzichten, um | |
etwas anderes zu kaufen. Diese Möglichkeit zum "internen Ausgleich" habe | |
Karlsruhe aber verlangt. | |
Doch die Bundesregierung zeigt sich unbeeindruckt. Am Freitag will sie das | |
Gesetz im Bundestag verabschieden. Am 17. Dezember wäre der letzte Termin | |
in diesem Jahr, an dem der Bundesrat der Neuregelung zustimmen könnte. Doch | |
im Bundesrat ist Schwarz-Gelb auf die Stimmen der SPD angewiesen. Und die | |
verweigert bisher ihre Zustimmung. Damit müsste eine Lösung im neuen Jahr | |
über ein Vermittlungsverfahren zwischen Bundesrat und Bundestag gefunden | |
werden. | |
1 Dec 2010 | |
## AUTOREN | |
Eva Völpel | |
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