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# taz.de -- Ostanatolien: Das traurige Tor zu Asien
> Kars liegt an der Grenze zu Armenien, nahe der Ruinenstadt Ani. Eine
> Reise in die anatolische Provinz mit Orhan Pamuk im Handgepäck
Bild: Die Gregorkirche des Tigran Honentz am Grenzfluss Akhurian wurde 1215 erb…
Das Polizeipräsidium von Kars war ein langes, dreistöckiges Gebäude, das
sich an der Faikbey-Straße erstreckte. Diese säumten alte, steinerne
Häuser, - Hinterlassenschaften reicher Russen und Armenier.“
Der Schriftsteller Orhan Pamuk hat die ostanatolische Stadt Kars in seinem
Roman „Schnee“ verewigt. Er zeichnet sie als rückständige, verarmte Stadt,
wo sich unglückliche Kopftuchmädchen umbringen und Fundamentalisten das
Theater stürmen. Sazaj Yazici, passionierter Lokalhistoriker, der im Roman
als Direktor des Fernmeldeamts auftaucht, sieht das anders - bei aller
Bewunderung für den großen Schriftsteller aus Istanbul, den er stundenlang
persönlich gebrieft habe.
„Kars ist der Westen im Osten. Die am stärksten westlich orientierte Stadt
in der Osttürkei“, sagt er. „Kars ist modern, kein Ort für religiösen
Fundamentalismus. Orhan Pamuk hat zu Unrecht eine sehr konservative Stadt
daraus gemacht“, kritisiert er im Innenhof des in der Designermoderne
angekommenen Kars Otel.
Das gestylte Boutique Hotel war einst ein russisches Bürgerhaus mit
aufwändig geschnitzten, weißen Holzbalkonen, hohen Decken und großen
Fenstern. Heute ist es der Vorgriff auf eine bessere Zukunft der verloren
wirkenden Stadt.
Kars liegt am östlichen Ende der Türkei und ist Schnittpunkt armenischer,
georgischer, griechischer, russischer und türkischer Kultur. „Aus den Boxen
dröhnt zuweilen das armenische Radioprogramm Radio Eriwan. Und in den für
ostanatolische Verhältnisse enorm vielen schrägen Etablissements wird
gesoffen, gesungen und gehurt“, versprechen Bussmann und Tröger in in ihrem
Türkei-Reiseführer.
In der Tat gibt es erstaunlich viele Bars. Geprägt hat die Stadt aber vor
allem die russische Architektur Ende des 19. Jahrhunderts. Die Straßen sind
breit und rechtwinklig, einige Gebäude aus der Jahrhundertwende sind
stuckverziert. Kars gehörte von 1877 bis 1921 zu Russland. „Das Hotel
Schneepalast war ein elegantes Beispiel russischer Ostsee-Architektur“,
schreibt Orhan Pamuk und lässt seinen Protagonisten dort einchecken.
Lichtgestalt Pamuk
Den Schneepalast gibt es heute nicht mehr, im Untergeschoss des dort
errichteten grauen Betonbaus befindet sich nun ein Käseladen, der große
Räder des berühmten Kars-Käses gestapelt hat - die Spezialität der Region.
Nuriye Burhan serviert Tee auf der Terrasse des Restaurants der privat
geförderten Frauenschutzorganisation „Kamer“, oberhalb des Käseladens,
gleich neben dem Kars Otel. Auch sie besteht darauf, dass Kars modern sei.
„Hier gehen alle in die Schule, die Mädchen sogar vor den Jungs.“ Nuriye
betreibt das Restaurant zusammen mit Aysel Erol. Hier speisen Beamte,
Richter, Ärzte. Hierher kommen Frauen, die Hilfe suchen. „Weil sie schlecht
behandelt werden oder weil sie dringend Arbeit zum Überleben brauchen“,
sagt Nuriye. „Kamer“ ist für notleidende Frauen eine erste Anlaufstelle.
Sie gibt konkrete Hilfe und Anschubkredite. Mittlerweile gibt es die
Frauenorganisation „Kamer“ in vielen Städten Anatoliens.
Auf dem Gehsteig vor dem Restaurant gehen Frauen in engen Jeans und in
trendigen hohen Absätzen vorbei. Dazwischen Kopftuch-Frauen. Nuriye lüpft
ihr Kopftuch. „Das trage ich nur in der Küche“, sagt sie demonstrativ.
„Sie gingen von der Markthalle der Obst - und Gemüsehändler die
Kazim-Karabekir-Straße entlang, die von Läden mit Eisenwaren und
Ersatzteilen gesäumt war, liefen dann vorbei an Teehäusern, in denen
melancholische Arbeitslose fernsahen oder auf den fallenden Schnee
blickten, und an Läden mit Molkereiprodukten, die riesige Räder von
Kars-Käse ausstellten, und durchquerten in einer Viertelstunde die ganze
Stadt“, schreibt Pamuk.
Kars ist überschaubar. Eine trostlose Kleinstadt mit einigen verblichenen,
historischen Bauten und einer Vielzahl schnell hochgezogener
Mehrfamilienhäuser in Betonbauweise.
„In Pamuks Buch wird eine arme Stadt beschrieben und die Stadt ist heute
tatsächlich traurig, weil sie wirtschaftlich und sozial verblüht ist“, sagt
Sazaj Yazici bei der Stadtführung. Der einst blühende Handel mit der UdSSR
sei mit dem Kalten Krieg zusammengebrochen, die Grenzschließung zu Armenien
raubte der Stadt seit 1994 die Bedeutung einer lebendigen Grenz- und
Verwaltungsstadt.
„Aber die Stadt hat von Pamuk profitiert. Viele Leute kommen inzwischen
hierher. Sie wollen die Stadt von Pamuk besichtigen. Gerade habe ich eine
Gruppe aus Kanada zwei Tage begleitet.“
Die spanische Regierung habe 3 Millionen Dollar für Kars ausgegeben. „Wir
konzipieren damit unter anderem Routen innerhalb der Stadt, die Liebhabern
die Orte zeigen, wo Besucher wie Puschkin oder Pamuk weilten“, sagt Yazici.
Lichtgestalten für die glanzlose Stadt.
Kars ist für Touristen unspektakulär, doch es liegt an der alten
Seidenstraße und dem Hippietrail der 68er Indienfahrer. Und es ist idealer
Ausgangspunkt für den Besuch der verfallenen, armenischen Stadt Ani. Eine
erstaunlich gut ausgebaute Straße führt zur armenischen Grenze ins 45
Kilometer entfernte Ani.
Eine Geisterstadt mit herrlichem Ausblick auf die Schlucht des Flusses
Akhurian und die Wachtürme des auf der anderen Flussseite angrenzenden
Armenien. Türkische Grenzsoldaten bewachen die Ruinen und verkaufen
gleichzeitig Ansichtskarten und Wasser. Männliche Bewohner des letzten
türkischen Dorfes Ocakl bieten sich als Führer an.
Die neue Seidenstraße
Anis große Zeit, von der noch die im Jahr 1001 vollendete Kathedrale zeugt,
dauerte nur kurz. Was nicht von Seldschuken, Georgiern oder Mongolen
zerstört wurde, vernichtete ein Erdbeben im Jahr 1319. Doch die armenische
Kultur und Bevölkerung blieb hier heimisch.
Bis die türkische Regierung während des Ersten Weltkriegs fast zwei
Millionen anatolische Armenier deportieren ließ. Eine Deportation, die für
viele die Vernichtung bedeutete. Bis zu eineinhalb Millionen Menschen
sollen ums Leben gekommen sein.
„In der Vergangenheit war der Zugang zur Stadt Ani nur mit Genehmigung
möglich. Wegen der Grenznähe gab es Fotografierverbot“, sagt der
Reiseführer Engin. „Seit Sommer 2005 gibt es keine Beschränkungen mehr. Es
gibt eine behutsame Annäherung der beiden verfeindeten Staaten“, weiß er.
Der heimatkundige und engagierte Sazaj Yazici in Kars setzt seine ganze
Hoffnung auf diese Annäherung, konkret auf die Grenzöffnung zu Armenien:
„Diese bedeutet für uns die Öffnung zu Zentralasien. Für uns wird
Entwicklung erst dann stattfinden, wenn Kars wieder das Tor zu Asien wird.“
Dazu trage auch die für 2012 geplante Eisenbahnlinie bei. Die
Eisenbahnlinie Baku-Tiflis-Kars soll den Handel und Austausch zwischen der
Türkei, Georgien und Aserbaidschan neu beleben und Kars zur
Handelsdrehscheibe in der Osttürkei machen. Der Lokalhistoriker Yazici
nennt die geplante Eisenbahn jetzt schon „die neue Seidenstraße“.
1 Dec 2010
## AUTOREN
Edith Kresta
## TAGS
Reiseland Türkei
Bahn
Völkermord Armenien
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