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# taz.de -- Aus der Deutschland-taz: Rechte Lebenslügen
> Die drei dogmatischen Mythen der deutschen Rechten über Einwanderung und
> Integration.
Bild: Cohn-Bendit: Wer sagt, Multi-Kulti sei gescheitert, redet Unsinn.
Erstens: Multi-Kulti war eine Antwort. Der Begriff umriss nie den Entwurf
einer neuen Gesellschaft, sondern war die Antwort auf die Verweigerung der
Konservativen und der Sozialdemokraten bis in die Neunzigerjahre, die
Realität der Einwanderungsgesellschaft anzuerkennen. Der entscheidende Mann
für die multikulturelle Gesellschaft war Ludwig Erhardt, CDU. Als Arbeits-
und Wirtschaftsminister hat er in den Fünfzigern gegen CDU, SPD und
Gewerkschaften die Anwerbung von Arbeitskräften aus dem Ausland
durchgesetzt.
In den Sechzigerjahren war man froh, Türken anzuwerben - denen unterstellte
man, anders als Italienern, keine politischen Unruhestifter zu sein. Nur:
Mit den Türken, den Menschen aus Bosnien oder dem Maghreb wanderte auch der
Islam nach Deutschland ein.
Wer sagt, Multi-Kulti sei gescheitert, redet Unsinn. Woran wir tragen, sind
die Folgen einer Einwanderungspolitik, die nie eine sein sollte. Wenn man
aber eine Einwanderungsgesellschaft wie die unsrige hat, muss man sich
Gedanken machen: Wie funktionieren unsere Schulen, wie funktionieren
überhaupt unsere sozialen Organisationen, wenn Deutschland ein Land mit
Eingewanderten ist?
Um nicht um den heißen Brei herumzureden: Erst als die SPD sich auf Druck
der Grünen einem neuen Staatsbürgerrecht zuwandte, änderte sich etwas.
Immerhin: Das Blutsrecht gilt nicht mehr. Man muss ja lachen, wenn
Konservative hell empört sind, dass Mesut Özil von Türken beim Länderspiel
in Berlin ausgepfiffen wird, weil er für Deutschland spielt. Wenn es nach
der CDU und CSU gegangen wäre, könnte ein Spieler mit türkischem
Hintergrund noch heute nicht in einer deutschen Nationalmannschaft spielen.
Pharisäer aller Länder vereinigt euch!
Zweitens: Das Asylgesetz zu ändern war richtig. Aber zugleich wurde kein
Einwanderungsgesetz geschaffen. Eines solchen hätte es bedurft. Das Recht
auf politisches Asyl konnte nicht weiter für eine moderne
Einwanderungspolitik missbraucht werden. Die Problematik, mit der wir uns
heute beschäftigen müssen, ist ein Ergebnis dieser politischen
Fehlentwicklung.
Was uns fehlt, ist eine Kritik des eigenen Hochmuts. Wir brauchen keine
Kultur, die insgeheim die Zwangsmodernisierung von Menschen lobpreist. Das
ging schon in der Türkei schief - dort hat Kemal Atatürk Anfang des 20.
Jahrhunderts versucht, sein Land von "Rückständigkeiten" zu befreien.
Erzwungene Veränderung ergibt jedoch totalitäre Systeme, wie die Türkei
nach dem Militärputsch 1980 oder der Iran nach dem Putsch 1953 und die
Machtübernahme des Schahs.
Die Kritik an Muslimen lebt häufig von der Verachtung, dass viele
Einwanderer diese Modernität nicht leben wollen oder können. Wir verkennen
dabei, dass das, was heute als natürliche Leitkultur gilt, in den
Fünfzigern bei uns noch vollkommen verpönt war. Offen lebende Schwule?
Frauen, die einen eigenen, vom Mann unabhängigen Kopf haben? Kinder, die
frei aufwachsen? Das wäre in Deutschland der Nachkriegszeit unmöglich
gewesen - alle Fortschritte sind beinhart errungen worden.
Diese Konflikte finden heute mit der gleichen Härte in den
Immigrantencommunitys statt. In dieser Debatte kann es für uns keinen
Kulturrelativismus geben. Wir müssen die Verbündeten in den jeweiligen
Communitys unterstützen und somit eine "sie-gegen-uns-Situation"
verhindern.
Drittens: Wir brauchen eine Orientierungs-, keine Leitkultur. Diese muss
von einer politischen Definition leben, nicht von einer kulturellen. Mit
einer politischen Definition lassen sich Debatten führen, mit ihr kann man
streiten - aber die Linien dieser Diskurse können nicht so gezogen werden,
als sei das Muslimische an sich unfähig, sich in ein säkularen Gemeinwesen
zu integrieren.
Es stimmt, dass Einwanderer unsere Sozialsysteme ausbeuten wollen. Ebenso,
dass es viele Menschen aus Mittelschichten oder aus der Oberschicht gibt,
die unser System schröpfen, indem sie Steuern hinterziehen.
Steuerhinterziehung und Einwanderung in Sozialsysteme sind zwei Seiten
einer gleichen Münze, nämlich die Schwächung des Gemeinwesens. Solange die
Debatte nur um die Schwachen geht, geht die von Thilo Sarrazin befeuerte
Debatte in die Irre.
Man kann Multi-Kulti leugnen, aber nicht aus der Welt schaffen.
Einwanderung bedeutet Ungleichzeitigkeit. Ich plädiere für einen
Gesellschaftsvertrag, der Abschied nimmt von der Idee, die deutsche
Gesellschaft könnte wieder so werden wie sie noch vor 30 Jahren war, und
ich wünsche mir, dass das heutige Deutschland all denjenigen gehört, die in
Deutschland heute leben.
5 Dec 2010
## AUTOREN
Daniel Cohn-Bendit
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