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# taz.de -- 16.000 protestieren gegen Stuttgart 21: Demo bleiben!
> Bernd-Wilfried Kießler ist Dauerdemonstrant. Christine Prayon stieß
> später dazu. Warum sie auch nach der Schlichtung demonstrieren? "Es gibt
> keinen Grund aufzuhören".
Bild: Erste Demo nach Abschluss der Schlichtung: Am Samstag in Stuttgart.
STUTTGART taz | Christine Prayon findet es gut, die Leute manchmal zu
nerven. Wenn sie selbst vor ein paar Monaten nicht genervt worden wäre,
würde sie an diesem Samstag nicht mit Trillerpfeife im Mund vor dem
Stuttgarter Hauptbahnhof stehen. Sie ist in einen dicken Wintermantel
eingepackt, ihre braunen welligen Haare fallen auf die Kapuze. Die
Trillerpfeife ist das einzige Utensil, das sie als Demonstrantin
auszeichnet.
Sie hält kein Protestschild in die Höhe. Und wenn die Masse "Mappus weg"
brüllt, brüllt sie nicht mit. Sie klatscht höchstens mal. Konzentriert
schaut sie auf die Rednerbühne. "Heute ist es entscheidend, was gesagt
wird", sagt die 36-Jährige.
Christine Prayon ist Kabarettistin. Sie hat den "Goldenen Besen" der Stadt
Stuttgart gewonnen. Sie erhielt den Kleinkunstpreis des Landes
Baden-Württemberg. Gerade tourt sie mit ihrem Programm "Die
Diplom-Animatöse" durch Deutschland. Doch heute steht sie vor dem
Hauptbahnhof, den diese Stadt Stuttgart und dieses Land Baden-Württemberg
komplett umbauen wollen.
Es ist die erste Großdemonstration gegen das Bahnprojekt Stuttgart 21 nach
dem Ende der Schlichtung durch Heiner Geißler. "Das nervt bestimmt eine
Menge Leute, dass wir jetzt schon wieder demonstrieren", sagt Prayon. Und
natürlich bestehe auch die Gefahr, jetzt ein schlechtes Image abzubekommen.
Im Sommer waren sie die sympathischen Schwaben, die endlich mal aufsässig
werden und es denen da oben mal so richtig zeigen wollen. Doch in den Augen
mancher Leute haben sie es denen da oben doch schon so richtig gezeigt.
Jetzt könnte doch alles wieder gut sein. Trotzdem gehen sie weiter auf die
Straße. Einige mögen das sturköpfig oder besserwisserisch finden.
"Klar", sagt Prayon. "Das ist aber kein Grund aufzuhören. Gegen
Stimmungsänderungen kann man nichts machen. Wir können nur weitermachen."
Das habe nichts mit Besserwisserei zu tun, sondern mit Überzeugung.
Außerdem müssten die Leute doch zumindest das Fragezeichen haben: "Warum?
Warum schon wieder so viele?"
Tatsächlich waren es am Samstag wieder viele. Die Polizei zählt an diesem
Nachmittag 16.000 Menschen. Auf der Bühne ruft Hannes Rockenbauch vom
Aktionsbündnis gegen Stuttgart 21 die Zahl "50.000" ins Mikrofon. Christine
Prayon reißt ihre Augen auf. Jetzt könnte sie losjubeln.
Doch als sie sich mit immer noch großen Augen nach hinten umdreht, streckt
ihr ein Mann hinter ihr seine flache Hand waagerecht entgegen und kippt sie
abwechselnd leicht nach links und rechts. Während die Masse über die hohe
Anzahl jubelt, regt sich Bernd-Wilfried Kießler kaum.
So ruhig er da auch steht, Kießler ist einer der Nervenden, die es in
Prayons Augen braucht. Er drängte sie immer wieder mitzukommen. "Nur weil
er genervt hat, bin ich irgendwann hingegangen", sagt Prayon.
An der Jacke ein gelber Button, ein grüner Protestschal, eine grüne
Protestmütze, eine mit Kieselsteinen gefüllte Teedose zum Rasseln, ein
Luftballon. Kießler ist Dauerdemonstrant, seit einem Jahr.
Ministerpräsident Stefan Mappus würde ihn wohl als "Berufsdemonstranten"
abtun. Früher ist er samstags ins Fußballstadion gegangen. "Das hier ist
sinnvoller."
Seit er dabei ist, habe er von den Montagsdemos maximal drei verpasst. Die
allerersten Demos am Nordflügel mit sechs Leute hat er zwar auch nicht
miterlebt. Doch dann stieß der 65-Jährige mit grauem Pferdeschwanz bald zu
dem noch überschaubaren Protesthäufchen. Wie aus dem Häufchen eine Masse
wurde, kann er sich bis heute nicht erklären.
Aber er hat seine Erfahrungen mit der Anzahl der Demonstranten gemacht.
"Die Polizeizahl mindestens mal zwei", sagt er. Aber eigentlich sei das
sowieso nicht wichtig. "Es darf nur nicht peinlich werden. 2.000 Menschen
an einem Samstag, das wäre schlecht gewesen", sagt Kießler. "Aber die
Gefahr war gering", schiebt er hinterher.
Auf der Bühne werden die Teilnehmer für das Aktionsbünnis an der
Schlichtung gefeiert. Einer nach dem anderen wird namentlich aufgerufen.
Der Grüne Werner Wölfle wird als "Spielführer" bejubelt, Gangolf Stocker
als "das Herz und der Kopf unserer Protestbewegung", Klaus Arnoldi als
"Vater des Alternativkonzepts K21".
Kießler ist sicher, dass die Leute auch im neuen Jahr wieder auf die Straße
kommen. Könnte der Schlichterspruch von Heiner Geißler für ein "Stuttgart
21 Plus" nicht die Luft rausgenommen haben? "Da lachen die Leute hier doch
nur drüber. Die haben eine Standfestigkeit. Das wird nicht
zusammenbrechen." Im Sommer sei die Sorge, dass der Protest wegen der
Urlaubszeit zusammenbrechen könnte, schon einmal ausgeräumt worden. Immer
mehr Leute kamen damals zum Nordflügel und in den Schlossgarten, dreimal
die Woche.
Dann kam der 30. September. Der brutale Einsatz der Polizei, die mit
Wasserwerfern und Schlagstöcken gegen eine Schülerdemo vorging. Die
Stimmung in der Stadt war danach aufgeheizt. Für einige gab es keine andere
Möglichkeit, als sich unter der Aufsicht von Geißler an einen runden Tisch
zu setzen.
Christine Prayon hielt das von Anfang nicht für richtig. "Die Gegner von
Stuttgart 21 hatten so einen Zuspruch. Mappus und Co standen mit dem Rücken
zur Wand - und jetzt …" Und jetzt? "Sind sie rehabilitiert." Für einen
kleinen Moment wirkt Prayon resigniert. Dabei kann die Kabarettistin sehr
eindringlich reden. Ihre Hände zeichnen dann in der Luft das nach, was sie
in Worte fasst. Dabei hatte sie sich erst gar nicht für den Bahnhof
interessiert. Sie tat den Streit als ein Lokalproblem ab. Dann nervte
Kießler. Das war im Juni und aus dem Bahnhof wurde mehr als ein
Lokalproblem.
Anders als Kießler kennt Prayon keine Minidemos. Sie hat die Höhen und
Tiefen der Protestbewegung nicht mitgemacht. Sie kennt nur die Höhen. Ihr
war bewusst, wie wichtig die Demo nach der Schlichtung sein wird.
Vielleicht war es für die Bewegung der allerwichtigste Tag.
Die Reden sind an diesem Tag sehr selbstbezogen. Es wirkt, als müsse ein
Boris Palmer (Grüne) den Menschen erklären, warum sie auch weiterhin auf
die Straße gehen sollten. Im Sommer musste das keiner erklären. Doch nach
der Schlichtung schien es so, als nähme die Politik wieder die Sache in die
Hand. "Viele sind verunsichert, wie sie sich jetzt verhalten sollen", sagt
Prayon. Während der Schlichtung seien viele zu Hause geblieben. Dadurch
spürte Prayon auch, dass der Kontakt schwand. Mit einem Mal sahen sich die
Demonstranten nicht mehr dreimal die Woche.
Jetzt wird es wieder so eine Zeit geben. Die Großdemonstranten haben sich
in die Weihnachtspause verabschiedet. Doch Kießler und Prayon sind beide
überzeugt: Bis zur Landtagswahl im März wird der Protest noch weitergehen.
Und dann? "Natürlich wird die Landtagswahl etwas von Endgültigkeit
reinbringen", sagt Prayon. Aber wer wisse schon, was im Ländle passiert.
"Vielleicht gehen wir für ganz andere Sachen auf die Straße im März. Das
Thema Stuttgart 21 kann gerne mal wieder ad acta gelegt werden. Aber diese
Wachsamkeit und die Kontakte zu tollen Leuten, da hoffe ich, dass das
bleibt."
12 Dec 2010
## AUTOREN
Nadine Michel
## TAGS
Schwerpunkt Stuttgart 21
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