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# taz.de -- Missbrauch in Kinderheimen: "Das Schlimmste war die Willkür"
> Der Bildhauer Michael-Peter Schiltsky erlebte als zehnjährige Halbwaise
> im Heim Schläge und sexuellen Missbrauch. Noch fast 50 Jahre später
> leidet er an der Angst von damals.
Bild: Mit der Entschädigungsforderung des Runden Tischs für Heimkinder werden…
BERLIN taz | Ein Restaurantbesuch, zum Beispiel. Das Klappern der Bestecke,
Stimmengemurmel, der Geruch aus der Küche. Gäste empfinden diese
Halböffentlichkeit meist als angenehm. Nicht so Michael-Peter Schiltsky.
"Die Erinnerungen an den Speisesaal, an das Heim, sind sofort wieder da",
erzählt der 63-jährige Schiltsky. "Ich kann bis heute nicht mit Freuden in
ein Restaurant gehen."
Schiltsky hat wie andere Betroffene vor Jahren schon eine Petition an den
Bundestag formuliert, um auf die Schicksale ehemaliger Heimzöglinge
aufmerksam zu machen. Aus familiären Gründen kam er 1957 ins Heim, er war
gerade mal neun Jahre alt. Der Vater war todkrank und starb, die Mutter
überfordert mit dem Jungen. Das Knabenheim Westuffeln im westfälischen Werl
wirkte zuerst gar nicht so unfreundlich: Es gab regelmäßig zu essen, er
bekam ein Bett im Krankenzimmer. Doch dann folgten Erlebnisse, die das Kind
nicht verarbeiten konnte.
"Gleich in den ersten Tagen kam jemand nachts in den dunklen Raum und legte
sich zu mir ins Bett", erzählt Schiltsky. "Das war ein Ereignis, das für
mich nicht einzuordnen war: Jemand legt sich zu mir und ist fast zärtlich,
was ich über ein ganzes Jahr nicht erlebt hatte. Und dann: Da stimmt etwas
nicht. Da tut etwas weh und ist nicht in Ordnung. Und gleichzeitig auch:
Das darfst du keinem sagen." Der sexuelle Missbrauch dauerte zwei Wochen.
Dann kamen die Schläge. Für die 50 Knaben in dem evangelischen Heim gab es
nur drei Erziehungskräfte, ohne pädagogische Ausbildung. "Schläge waren an
der Tagesordnung", erzählt Schiltsky, "wenn der Erzieher gemeint hat, das
war jetzt etwas Schlimmeres, dann wurde das dem Hausvater gemeldet, und
dann durfte man im Speisesaal den Arsch blank ziehen. Das Schlimme war die
Tatsache, dass man vor den einzigen weiblichen Personen, die es im gesamten
Heimgelände gab, nämlich dem Küchenpersonal, die Hosen runterlassen
musste."
Ein Erzieher, den Schiltsky Jahre später mit seinen Erlebnissen
konfrontierte, räumte rückblickend ein: "Wenn man als Erzieher einen Ruf
hatte, bei dem geht es drunter und drüber, dann war das ein schlechtes
Image für einen selber. Von daher stand man unter dem Zwang, in seiner
Gruppe Ordnung zu haben, und das ließ sich bei der Masse von Kindern oft
nur mit Gewalt durchsetzen."
Das gewalttätige System veränderte die Persönlichkeit des Jungen. "Nach
knapp eineinhalb Jahren war ich so weit, dass ich einen zusammengeschlagen
habe, und ich weiß noch, ich habe nur noch dessen Haare genommen und den
Kopf auf den Boden geknallt." Erst nachdem er selbst gewalttätig geworden
war, bekam er im Heim einen Namen. Vorher war er nur die "Nummer 34, der
Neue" gewesen.
"Unter den Jungen existierte eine rigide Hackordnung. Der Stärkste hatte
das Sagen", schildert Schiltsky. "Und die Rangfolge wurde mit Fäusten und
Tritten blutig ausgekämpft." Nur selten gab es Solidarität unter den
Jungen. Etwa wenn die Kleinen, die einnässten, von anderen Kindern
rechtzeitig geweckt und zur Toilette gebracht wurden, damit ihnen das
Spießrutenlaufen mit dem nassen Laken über dem Kopf erspart blieb, das die
Erzieher sonst veranstalteten.
Neben den Schulstunden mussten die Jungen hart arbeiten: in der Küche, im
Gewächshaus, in den Ställen bei den Schweinen, den Hühnern, Schafen und
Eseln. Die Arbeit begann vor dem Frühstück. "Erst danach ging es in den
Speisesaal zur täglichen Haferschleimsuppe mit Brot zum Reinbrocken." Die
Jungs aßen von Blechtellern. In der Erntesaison fiel die Schule aus,
stattdessen wurde auf den Feldern geackert.
Michael-Peter Schiltsky verließ das Heim 1962. Er machte Karriere als
Bildhauer, bekam Gastprofessuren und Stipendien. Doch noch heute leidet er
unter "einem permanenten Gefühl der Angst", geprägt durch die jahrelange
Erfahrung, ausgeliefert zu sein an Autoritätspersonen, die mal prügelten,
dann wieder nicht. "Das Schlimmste war die Willkür", sagt er. "Cordhosen
kann ich heute noch nicht sehen, da komme ich ins Schwitzen." Sein
"Hausvater" im Knabenheim hatte solche Hosen getragen.
14 Dec 2010
## AUTOREN
Barbara Dribbusch
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