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# taz.de -- Dmitri Muratow über den Fall Chodorkowski: "Die Oligarchen sind fe…
> Das Urteil im Prozess gegen den russischen Ex-Ölmilliardär Michail
> Chodorkowski verzögert sich. Das gibt Hoffnung, meint der Chefredakteur
> der "Nowaja Gaseta".
Bild: "Wir haben auch gar nicht so viele fähige junge Juristen": Michail Chodo…
taz: Herr Muratow, was für ein Urteil erwarten Sie im Prozess gegen
Chodorkowski?
Dmitri Muratow: Das weiß nur Richter Wiktor Danilkin. Mein Gefühl sagt mir
aber, dass er unter dem von der Staatsanwaltschaft geforderten Strafmaß
bleibt. Die verlangt vierzehn Jahre, von denen die bereits abgesessenen
acht Jahre abgezogen werden. Bleibt das Gericht bei acht Jahren, könnte
Chodorkowski nächstes Jahr entlassen werden. Auch nicht ausgeschlossen ist,
dass Chodorkowski und Lebedew ein Gnadengesuch stellen und Präsident
Medwedjew dem stattgibt. Das wäre aber kein Schuldeingeständnis.
Sie haben beide Prozesse genau verfolgt. Wodurch unterscheiden sich die
Verfahren?
Entscheidend ist die unterschiedliche gesellschaftliche Wahrnehmung des
Prozesses. Im ersten Verfahren glaubte die Bevölkerung den Machthabern, die
so taten, als würden sie den Kampf mit den Oligarchen aufnehmen. Heute ist
klar, nicht die Oligarchen waren der Gegner, sondern die eigenständig
denkenden Bürger. Die Oligarchen sind mit den Jahren noch fetter geworden.
Dafür sind sie auch bereit, die Vorgaben der Machthaber zu erfüllen. Der
Prozess belegt, dass er politisch motiviert und der Straftatbestand nur ein
Vorwand ist.
Vor seinem Amtsantritt hat Präsident Dmitri Medwedjew den Rechtsnihilismus
in Russland scharf gegeißelt. Wie verträgt sich diese Einstellung mit der
fabrizierten zweiten Anklage gegen Chodorkowski?
Die Verfolgung Lebedews und Chodorkowskis begann vor Medwedjews Zeit.
Damals war er Chef der Präsidialadministration und äußerte sich bereits
skeptisch zum Verfahren. Er hat das Erbe Präsident Putins übernommen.
Bei der Bekämpfung des Rechtsnihilismus war er also nicht gerade
erfolgreich?
Einige Verbesserungen sind zu erkennen. Ein Teil der Richterschaft hat
begriffen, dass er nach der Verfassung unabhängig ist. Vor Kurzem war das
noch undenkbar. Zugegeben, viele Richter sind es noch nicht.
Rechtsnihilismus bei uns bedeutet, Recht wird nach Interessen gesprochen.
Binnen einem Jahr ist das nicht zu ändern. In Frankreich wechselte de
Gaulle an einem Tag die gesamte Richterschaft aus und setzte im Interesse
einer unabhängigen Judikative frische Juraabsolventen ein. Bei uns ist
nichts passiert, wir haben auch gar nicht so viele fähige junge Juristen.
Kluge Richter können die Signale des Präsidenten aber empfangen. Der
Vorsitzende des Verfassungsgerichts, Waleri Sorkin, warnte dieser Tage,
dass das Verbrechen auf dem Vormarsch sei, weil es keine objektiven
Gerichte gebe.
Die 90er Jahre gelten in Russland als eine Zeit der Anarchie. Ist es jetzt
anders? Wie steht es im Vergleich zu damals um den Rechtsstaat heute?
Leider sind Gerichte nicht für jeden zugänglich. Klagen werden oft nicht
angenommen, der Amtsschimmel wütet, Prozesse und Urteile ziehen sich über
Jahre hin. In Straf- und zivilrechtlichen Prozessen sind die Urteile aber
meistens gerecht, wenn auch ungerechtfertigt hart. Bei Wirtschaftsdelikten
orientieren sich die Gerichte an den Vorgaben von Staatsanwaltschaft und
Ermittlungsbehörden. Wie im Fall Chodorkowski. Meist stehen hinter den
Verfahren Eigentumsinteressen. Beamte werden geschmiert, damit sie einen
Konkurrenten ausschalten. Oft strengen Polizei und Staatsanwaltschaft die
Prozesse an, weil sie sich ein florierendes Geschäft selbst unter den Nagel
reißen wollen. Ich kann Dutzende Fälle aufzählen, in denen dieselben Leute
aus dem Innenministerium im Schulterschluss mit Staatsanwaltschaft und
anderen Ordnungshütern Menschen eingebuchtet haben, weil sie nach deren
Vermögen trachteten.
Falls Chodorkowski eine lange Haftstrafe erhalten sollte: Was für ein
Signal wäre das?
Ein Geschworenengericht würde Chodorkowski hundertprozentig freisprechen.
Fällt die Strafe höher aus, beweist dies erneut, dass die politische Klasse
die Justiz im Würgegriff hält.
Wird der Ausgang des Prozesses ihrer Meinung nach Auswirkungen auf die
Beziehungen zum Westen haben?
Der Westen spricht von Menschenrechten, zeichnet Journalisten und
Menschenrechtler aus. Gleichzeitig ist er zu dem Schluss gelangt, dass
Demokratie in Russland keine Chance hat. Nach dem Motto: Wenn die Russen
keine Demokratie wollen, wieso sollen wir uns dafür einsetzen? Man
vergisst, dass sich Menschen für diese Grundrechte bei uns krummlegen.
Stattdessen geben sich westliche Politiker kumpelhaft: Versteht uns doch,
wegen der Menschenrechte müssen wir halt etwas Lärm machen. Ansonsten lebt
so, wie ihr es für richtig haltet. Die Doktrin der souveränen Demokratie,
mit der der Kreml sich gegen äußere Einmischung schützt, haben westliche
Politiker einfach geschluckt. Sie brauchen Gas, Öl und Holz - ein banales
Tauschgeschäft.
Welche Bedeutung hat die Person Chodorkowski für Russland heute?
Für den denkenden Teil der Gesellschaft sind Lebedew und Michail
Chodorkowski immer wichtiger geworden. Er verfolgt ihr Schicksal mit großer
Anteilnahme. Der Mehrheit der Intelligenz fragt sich: Wie ist es möglich,
solche ernsten, großen und talentierten Leute, die der Gesellschaft Nutzen
bringen sollten, wegzusperren?
In letzter Zeit hat der Druck auf die Nowaja Gaseta wieder zugenommen. Wie
sieht das konkret aus?
Im November wurde die Bank unseres Aktionärs Alexander Lebedew von
Maskierten aus den Sicherheitsstrukturen heimgesucht. Sie verlangten
Dokumenteneinsicht. Wenn Maskierte in die größte Bank eindringen, sind
nicht Papiere der Anlass. Sie wollten einschüchtern und haben finanzielle
Interessen. Zwei Milliarden Rubel sind schon rausgezogen worden.
Hat Russland unter Medwedjew eine Chance zur Modernisierung?
In den letzten anderthalb Jahren veränderte sich die Atmosphäre im Land.
Die Mittelschicht dachte früher daran, wohin sie mit der Familie abhauen
könnte. Heute hat sie wieder Hoffnungen, verfolgt Nachrichten im Internet,
hört einschlägige Radiosender und liest Zeitung. Wir merken das, weil wir
mehr Unterstützung erhalten. Auch zivilgesellschaftliche Aktionen werden
stärker wahrgenommen. Die Menschen fühlen sich plötzlich wieder wie
selbstständige europäische Bürger. Auch die öffentliche Meinung ist zurück.
Das macht Hoffnung.
15 Dec 2010
## AUTOREN
Klaus-Helge Donath
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