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# taz.de -- Angst vor der russischen Justiz: Das Recht in Beugehaft
> Am Mittwoch wird der Ölmilliardär Michail Chodorkowski verurteilt, das
> Verfahren gilt als gesteuert. Der Glaube an die Justiz ist in Russland
> ohnehin nicht groß.
Bild: Michail Chodorkowski wird dem Moskauer Distriktgericht zugeführt.
Russlands Rechtsprechung befindet sich in einer Krise. Von allen
Staatsbediensteten sind die an Gerichten am unpopulärsten, so das
angesehene russische Meinungsforschungsinstitut VCIOM. Gerade einmal ein
Viertel der Bevölkerung glaubt, Gerechtigkeit ließe sich über Gerichte
durchsetzen, dagegen halten 56 Prozent das für ein Ding der Unmöglichkeit.
Die Vorstellung sitzt tief, Gerichte seien ein Bestrafungsinstrument des
Staats. Das Wort "Gericht" lässt Menschen in Russland erzittern und sie
unwillkürlich an eine unabwendbare Strafe denken. Respekt oder gar
Vertrauen empfinden die wenigsten.
Die Sowjetmacht hat überdeutliche Spuren hinterlassen. Unter ihr dienten
die Rechtswissenschaften allenfalls als Instrument der Bestrafung der
Feinde des Regimes und der Verfolgung Andersdenkender.
"Gerichte haben nicht dem Terror der Bolschewisten Einhalt zu gebieten, sie
müssen diesen vielmehr rechtfertigen und gesetzlich legitimieren", hatte
Wladimir Lenin den Sachverhalt beschrieben. Deswegen sind auch heute noch
99 Prozent aller Gerichtsurteile verurteilend. Wer einmal in die Fänge der
Rechtsprechung geraten ist, kann diesen kaum entrinnen.
In den 90er Jahre wurden Richter, kaum hatten sie etwas Vertrauen in ihren
Berufsstand gewonnen, von zwei Seiten unter Druck gesetzt: von den nach der
Privatisierung reich gewordenen Magnaten und von den sogenannten
"Himbeerjackets", wie man damals Banditen der "russischen Mafia" zu nennen
pflegte.
Unter diesen Verhältnissen blühte die Korruption in bisher ungeahntem
Ausmaß. Eine Anekdote machte damals die Runde, wonach ein Kläger dem
Richter 100.000 Dollar auf den Tisch legte, damit dieser in seinem Sinne
entscheide. Nachdem am nächsten Tag weitere 100.000 Dollar von dem
Angeklagten auf dem Tisch lagen, war der Richter ratlos. Am Ende entschied
er sich, Gerechtigkeit walten zu lassen.
Für diese Form von Druck auf die Beamten in ihren Talaren hat man auch
einen schönen Namen gefunden: das "Telefonrecht". Im Zweifelsfall
übermittelt man den Richtern rechtzeitig eine klare Vorgabe. Wie er dieses
Ziel erreichen kann und von welchen Gesetzen er sich bei seinem Vorgehen
leiten lassen will, ist ihm anheimgestellt.
Natürlich gibt es auch Beamte, die meinen, sie könnten gerechte
Entscheidungen selbst treffen. Doch das System spuckt sie aus. Gründe für
deren Absetzung oder das Kassieren ihrer Urteile zu finden, ist nicht
schwer.
Viele entscheiden sich in ihrer Gewissensnot für einen Mittelweg: Bei einer
unsicheren Beweislage fällen sie zwar ein Urteil, setzen die
Freiheitsstrafe jedoch zur Bewährung aus. Das Ziel einer Verurteilung hat
der Staatsanwalt so erreicht. Gleichzeitig bleibt der Angeklagte auf freiem
Fuß, muss sich lediglich in gewissen Abständen auf der Milizstation melden,
was ein leichtes Unterfangen ist.
Man darf aber all jene nicht aus den Augen verlieren, die sich ihre Würde
bewahrt haben: Richter, die sich von den Machthabern nicht beeindrucken
lassen, Staatsanwälte, die eine Anklage fallen lassen, wenn offensichtlich
ist, dass Beweismittel gefälscht wurden, und Anwälte, die sich den
Menschenrechten verpflichtet fühlen, statt nur an ihre Honorare zu denken.
Doch sie sind eine kleine Minderheit.
Der Machtantritt des Juristen Medwedjew an höchster Stelle hat auch
positive Neuerungen gebracht. So werden die Richter inzwischen auf
Lebenszeit ernannt, früher mussten sie eine dreijährige Probezeit
durchlaufen. Auch die in der höheren Instanz geführten Prozesse sollen nun
auf Initiative von Präsident Medwedjew völlig neu aufgerollt werden müssen.
Berufungsverfahren sollen mit derselben Intensität geführt werden wie in
der ersten Instanz, statt lediglich die alten Dokumente in zehn Minuten neu
zu bewerten. Allerdings werden diese Änderungen nur schleppend umgesetzt.
Das entsprechende Gesetz tritt 2012 in Kraft. In der Folge werden
Korruption und Justizirrtümer zurückgedrängt werden.
Europa kann auf Russland keinen Druck ausüben. Solange Gazprom die größte
Gasquelle in Europa ist, kann Brüssel nur gute Mine zum bösen Spiel machen
und dem Kreml drohend den Finger zeigen, so wie Eltern, denen das Verhalten
ihrer Kinder nicht gefällt. Am wenigsten hilft eine Verschärfung der
Visabestimmungen, die die Menschen nur noch weiter isolieren, die Stimmung
gegen Europa verstärken und den Nationalisten in die Hände spielen würde.
Das einzige erfolgversprechende Mittel scheint eine neue Generation freier
Menschen zu sein, denen totalitäres Denken fremd ist und die Freiheiten zu
schätzen wissen. Gleichzeitig muss mit der Aufklärung derer begonnen
werden, die immer noch in der Vergangenheit leben. Hilfreich sind hier
europäische Organisationen, die für russische Richter, Staatsanwälte und
Anwälte Schulungen anbieten.
Irgendwer hat einmal den langen Weg von einem totalitären zu einem
demokratischen Staat mit dem vierzigjährigen Weg von Moses in der Wüste
Ägyptens verglichen. Er hatte das jüdische Volk so lange geführt, wie in
ihm noch in der Sklaverei Geborene lebten. Für Russland ist das wohl die
einzige Chance: Die Mission von Moses ist die Europas, das seinem Nachbarn
einen Alternativweg anbieten kann.
Übersetzt von Bernhard Clasen
10 Dec 2010
## AUTOREN
Valerij Netschaj
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