# taz.de -- Indiens Regierungschef Singh: "Die Welt braucht eine neue Idee" | |
> Die Politiker aus Washington, Peking und Europa rennen ihm die Tür ein. | |
> Doch was macht Indiens Regierungschef Manmohan Singh derzeit so begehrt? | |
> Ein Porträt. | |
Bild: Hat das indische Wirtschaftswachstum ermöglicht: Premier Manmohan Singh. | |
DELHI taz | Harte, knifflige Gespräche hat Manmohan Singh vor sich. Der | |
indische Premierminister empfängt diese Woche in Delhi seinen chinesischen | |
Gegenüber Wen Jiabao. Die beiden werden diesmal die schwierigen | |
Grenzprobleme angehen, die beide Länder seit dem indisch-chinesischen Krieg | |
von 1962 trennen. Das Thema setzte Singh auf die Tagesordnung. Zur | |
Überraschung der Chinesen sprach er schon bei seinem letzten Treffen mit | |
Wen die Grenzprobleme unter vier Augen an. | |
Bisher war dafür eine Grenzkommission beider Länder zuständig. Aber das ist | |
typisch Singh: Es ist nicht seine Art, die Dinge liegen zu lassen. Lieber | |
legt er seine Karten freimütig auf den Tisch. "Singh ist unfähig, etwas | |
vorzutäuschen. Er kann nur geradeheraus reden", sagt sein persönlicher | |
Referent Harish Khare. Man weiß nicht, ob es dabei lobend oder abfällig | |
gemeint ist. | |
Singhs Kollegen jedenfalls mögen seine Art. Er muss etwas besitzen, das ihm | |
geradezu magnetische Anziehungskräfte unter seinesgleichen verschafft. Denn | |
sie stehen dieser Tage Schlange vor seiner Tür, die Großen dieser Welt: | |
US-Präsident Barack Obama klopfte im November an. Ihm war der britische | |
Premier David Cameron zuvorgekommen. | |
Der französische Präsident Nicolas Sarkozy folgte Anfang Dezember. Und nach | |
dem Chinesen Wen wird Ende des Monats noch der russische Präsident Dmitri | |
Medwedjew in Delhi erwartet. Damit geben sich innerhalb weniger Wochen alle | |
ständigen Mitglieder des Weltsicherheitsrats bei Singh die Klinke in die | |
Hand. | |
Sicher: Indien weist nach China unter den großen Ländern den höchsten | |
Wirtschaftswachstum auf. Es tritt im Januar eine zweijährige Amtszeit als | |
nichtständiges Mitglied im Weltsicherheitsrat an. Jeder Staatschef hat | |
naheliegende Gründe, nach Delhi zu reisen. Doch wer sich eine Weile in | |
Umfeld Singhs bewegt, glaubt herauszuhören, dass sich hinter der neuen, | |
historisch bislang einmaligen diplomatischen Aktivität, die Indien dieser | |
Tage entfaltet, mehr versteckt als politisches Alltagsgeschäft. | |
"Die Welt braucht eine neue, große Idee", zitiert Khare seinen Chef. Singh | |
wisse zwar nicht genau, was für eine Idee, aber eine, die groß genug sei, | |
um die ganze Welt zu mobilisieren. So wie es der amerikanische Marshallplan | |
nach dem Zweiten Weltkrieg in Europa und Japan getan habe. | |
Khare sitzt in seinem Büro im sogenannten Südblock, einem altkolonialen | |
Sandsteingebäude auf dem Hügel des Präsidentenpalastes in Neu-Delhi, | |
während er die Gedanken seines Regierungchefs erläutert. Gleich neben dem | |
seinen liegt das Büro des Premierministers. Über Khare hängt ein | |
eindringliches Schwarzweißfoto von Mahatma Gandhi. Der Besucher kann dem | |
Blick Gandhis nicht entweichen. | |
Es gab eine Zeit, da lag die ganze Welt am Boden und musste zu diesem | |
kleinen Mann aufschauen. Unter dem Eindruck von Khares leiser, aber fester | |
Rede möchte man fast glauben, dass Singh heute Anschluss an diese Zeit | |
sucht. Nicht aus Machtgier. Damit hatte schon Gandhi nichts im Sinn. | |
Sondern weil er wie der Führer der indischen Unabhängigkeitsbewegung | |
glaubt, mit Vernunft, Disziplin und äußerster Überzeugungskraft Wandel | |
herbeiführen zu können. | |
Singhs Werdegang ist der eines Politikers wider Willen. Er wächst vor dem | |
Zweiten Weltkrieg als Sohn eines Bauern im westlichen Punjab auf. Sein | |
Heimatdorf liegt heute direkt neben der neuen Autobahn, die die | |
pakistanischen Großstädte Lahore und Islamabad verbindet. Als Angehörige | |
der Sikh-Minderheit flüchtet seine Familie nach Gründung des islamischen | |
Pakistan ins säkulare Indien. | |
Dort bleibt Singh in der Stadt und setzt sich als Musterschüler durch. Bald | |
studiert er mit Stipendien in Cambridge und Oxford und erhält dort als | |
Anhänger der Wirtschaftslehre John Maynard Keynes den Adam-Smith-Preis. Das | |
ist ein besonderes Kunststück, denn Keynes ist nun gerade kein Apostel der | |
liberalen Angebotslehre von Smith. Doch Singh gelingt es schon damals, | |
linke und rechte Wirtschaftstheorie zu vereinen. Er zeigt in seiner später | |
berühmten Oxford-Promotion über "Indiens Exporttrends und Aussichten auf | |
nachhaltiges Wachstum", wie eine staatlich forcierte Exportstrategie, die | |
sich nach der freien Nachfrage der Weltmärkte richtet, einem | |
Entwicklungsland den Aufschwung beschert. | |
Damals schreibt man das Jahr 1962. Indien und viele andere Länder des | |
Südens glauben noch an nationale, sozialistische Entwicklungsmodelle. | |
Andere im Osten - Japan und später die Tigerstaaten - folgen dagegen mit | |
Erfolg den Theorien Singhs. Ihn selbst stört das nicht. Er bleibt in | |
Indien, unterrichtet an der Uni und arbeitet sich langsam zum ersten | |
Ökonomen seines Landes herauf. Aufgrund seines Fleißes und seiner | |
Gründlichkeit wird er - trotzdem er damals kein Parteibuch besitzt - zum | |
Zentralbankchef berufen. | |
Später übernimmt er die Leitung der Nationalen Planungskommission. Er dient | |
im Direktorium des Internationalen Währungsfonds (IWF), aber auch als | |
Generalsekretär der Süd-Kommission, eines Gremiums südlicher Staatschefs | |
unter dem tansanischen Präsidenten Julius Nyerere. Wieder versucht Singh | |
einerseits den Glauben des Südens an die staatliche Wirtschaftskoordination | |
unter der Süd-Kommission zu stärken, andererseits aber den Süden in ein | |
liberales Weltwirtschaftsregime einzubinden, wie es der IWF befürwortet. | |
Dann steht Singh plötzlich im Mittelpunkt der Weltgeschichte. 1992 hat nach | |
der Sowjetunion auch das halbsozialistische Indien abgewirtschaftet. Um die | |
im freien Fall befindliche indische Währung zu stützen, muss das Land seine | |
letzten Goldvorräte verkaufen. Für die goldgläubigen Inder ist das ein | |
Albtraum - aus dem ein Mann sie rettet: Singh. Er wird in der Krise | |
Finanzminister und hat als Einziger einen Plan: Er öffnet Indien zur | |
Weltwirtschaft, schafft Zölle, Staatsmonopole und Kapitalschranken ab. Er | |
wird damit zum zweiten großen Wirtschaftsreformer in Asien, nach Deng | |
Xiaoping in China. Und er ist fast genauso erfolgreich: Auf den China-Boom | |
folgt bald der Indien-Boom. | |
Zwar wird die Kongresspartei, der Singh inzwischen beigetreten ist, im Jahr | |
1996 abgewählt. Acht Jahre lang ist Singh daraufhin Oppositionsführer im | |
indischen Oberhaus. Doch 2004, nach dem erneuten Wahlsieg der | |
Kongresspartei, steigt Singh zum Premierminister auf. Bei den Wahlen im | |
Jahr 2009 sichert er als erster Regierungschef seit Indira Gandhi seine | |
Wiederwahl. | |
"Er ist fähig, ehrlich und bescheiden, eine unter unseren Politikern sehr | |
seltene Kombination", sagt Khushwant Singh, einer von Indiens bedeutendsten | |
Schriftstellern - der heute 96-Jährige empfängt in einem Lehnstuhl. Die | |
beiden Singhs waren lange befreundet. Dabei spielt der Schriftsteller | |
indirekt auf die vielen Korruptionsskandale an, die Singh derzeit | |
innenpolitisch zu schaffen machen. Der stehe zwar selbst nicht unter | |
Verdacht, doch zu viele seiner Minister, sagt der alte Singh. Auch deshalb | |
beschäftige sich der Premierminister lieber mit Außenpolitik. | |
Dessen Tochter Upinder Kaur betont, dass ihr Vater ein Mann der knappen | |
Worte sei. Er könne gut zuhören, habe seine Kinder stets eigenständig | |
Entscheidungen treffen lassen. Und er hasse Luxus. Kaur unterrichtet | |
Geschichte an der Delhi-Universität und spricht erst nach Rücksprache mit | |
Khare über ihren Vater. | |
Was sie sagt, hilft zu erklären, warum heute die Obamas und Wens dieser | |
Welt zu Singh nach Delhi kommen. Hier finden sie einen, der zuhört und | |
ihnen keine Vorschriften macht. "Er hat keine nationalistischen Instinkte. | |
Es ist nicht seine Art, Ratschläge zu erteilen", sagt Sanjaya Baru, der von | |
2004 bis 2008 auf Khares Posten diente. Das alles macht Singh noch | |
attraktiver. | |
Der Delhier Ökonom Surjit Bhalla fügt hinzu, was seinen Kollegen außerdem | |
bewegt: "Wie können Industrie- und Entwicklungsländern gemeinsam wachsen? | |
Das ist die Frage, die schon hinter seiner Promotion, dann hinter seiner | |
Reformpolitik und heute hinter seiner Weltpolitik steht", sagt Bhalla, der | |
als orthodox liberaler Ökonom Singh eher kritisch gegenübersteht. | |
Singhs Frage aber ist die große Frage, die die Welt heute in der G 20, und | |
eben nicht mehr in der G 7 oder G 8, zusammenbringt. Dezidiert wie kein | |
anderer, so berichtet Baja, vertritt Singh in diesem Kreis seine | |
weltökonomischen Auffassungen. Erst kürzlich unterstützte er die expansive | |
Finanzpolitik der US-Zentralbank. "Wenn ich eines weiß, dann dass eine | |
starke, robuste, schnell wachsende Wirtschaft der USA im Interesse der | |
ganzen Welt ist", sagte Singh - dabei voll auf Seiten der USA. | |
Aber er kann auch anders sein: "Die Armen zu ernähren ist der größte | |
moralische Imperativ auf Erden", watschte er Obama in der G 20 ab, als | |
dieser über den Abbau landwirtschaftlicher Subventionen sprach. Singh | |
vertrat damit die Schwellenländer, die ihre arme Bauern schützen. So hat er | |
sich als einer von ganz wenigen auf seiner Ebene Vertrauen in Washington | |
und Peking verschafft. | |
Sowohl im Umkreis von Obama als auch von KP-Chef Hu Jintao schwärmen enge | |
Berater von Singh. Das wird ihn nicht zuletzt die Verhandlungen jetzt ruhig | |
angehen lassen. Indien und China haben auch als Schwellenländer viele | |
gegensätzliche Interessen. Doch mit Wen habe Singh ein sehr intensives, | |
intellektuelles Einverständnis, betont sein Referent Khare. Ähnlich sei das | |
mit der deutschen Bundeskanzlerin, die Singh alle drei Monate zum | |
Tête-à-Tête treffe, fügt Khare noch hinzu. | |
16 Dec 2010 | |
## AUTOREN | |
Georg Blume | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Korruption in Indien: Der Anfang vom Ende der Ära Singh | |
Premier Singh stimmt einem Untersuchungsausschuss zur Korruption zu. Singh | |
selbst gilt als integer, doch bot seine Politik viele Möglichkeiten zur | |
Korruption. | |
Debatte Korruption in Indien: Risse in der Glitzerfassade | |
In Indien wachsen die Zweifel, ob das Wirtschaftswachstum anhält. Denn die | |
ausufernde Korruption droht den Aufstieg des Landes ernsthaft zu gefährden. | |
Korruptionsskandal in Indien: Mit Mobilfunklizenzen Kasse gemacht | |
Die Regierung soll Staatseinnahmen in Höhe von umgerechnet 30 Milliarden | |
Euro veruntreut haben. Das Saubermann-Image von Premierminister Singh | |
bröckelt. |