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# taz.de -- Weihnachtscasino: Das Lebkuchen-Prinzip
> Die Gegenwart findet nicht statt, schon vor Weihnachten hat sich der
> Lebkuchen überlebt. Damit wird er Sinnbild der Geldwirtschaft. Denn nur
> wer spart, hat eine Zukunft.
Bild: Unschuldige weiße Hülle mit dunklem Kern: Auch der Lebkuchen verkörper…
Wo sind die Weihnachtskekse geblieben? "Haben wir nicht mehr", antwortet
der Supermarktverkäufer, als sei damit alles gesagt. Stumm weist er auf
eine Ecke. Seit Oktober hatte sich dort der Lebkuchen getürmt, auch als ihn
noch niemand benötigte. Doch jetzt sind nur Sekt-Paletten für Silvester zu
sehen. Weihnachten hat noch nicht stattgefunden, da wird fürs neue Jahr
gerüstet. Die Zukunft überholt sich selbst, eine Gegenwart scheint es nicht
zu geben.
Banaler Lebkuchen wird damit zu einem Sinnbild für die Geldwirtschaft. Denn
auch Geld kennt keine Gegenwart, sondern nur Zukunft. Würden wir all unser
Geld immer sofort ausgeben - wir hätten gar keines. Sobald sich auch nur
Cents in unserem Portemonnaie sammeln, vertrauen wir auf die Zukunft. Wir
sind uns sicher, dass wir planen können und dürfen.
Geld macht unsere Zukunft groß und weit. 30-Jährige sorgen für die Rente,
Eltern sparen für die Ausbildung ihrer neugeborenen Kinder, Firmen
investieren heute, um in fünf Jahren mit einem innovativen Produkt Gewinn
zu erzielen.
Das Leben verpasst
Gegen diese geldgesteuerte Zukunft sieht die Gegenwart mickrig aus. Sie
verkommt zur Planungsrampe für die Zukunft. Wer nicht aufpasst, verpasst
die Gegenwart ganz - und damit das Leben, das man doch nur im Augenblick
leben kann. Auch gegen diese Sorge hilft übrigens Geld: Für 100 Euro lassen
sich zehn Termine Yoga buchen, wo Atemtechniken geprobt werden, die jeden
Gedanken an die Zukunft ausschalten. Wer einen solchen Kurs mit seinen
festen Zeiten reserviert, plant also für die Zukunft, wann er nicht an die
Zukunft denken möchte.
Das ist paradox, aber offenbar ein uralter Trieb des Menschen. Yoga wird
zwar gern gegen die Alltagszwänge des Kapitalismus verordnet, wurde aber
nicht von ihm erfunden, sondern schon vor etwa 2.500 Jahren in Indien
entwickelt. Zukunftsstress ist also keine Klassenfrage, um Marx
abzuwandeln. Bereits die damaligen Nicht-Kapitalisten in Indien sorgten
sich, dass sie ihre Gegenwart verpassen, wenn sie nicht gezielt meditieren
- und auf eine geplante Zukunft verzichten. Die wesentliche Anweisung an
einen Yogi lautete: "nichts hoffend, ohne Besitz".
Schon dass diese Vorschrift nötig war, lässt zwingend vermuten, dass der
Alltag im alten Indien diesem Diktum zuwiderlief. Es wurde gehofft und nach
Eigentum getrachtet. Zukunft und Geld gehörten schon damals zusammen. Der
Kapitalismus hat diese enge Verbindung nur perfektioniert - durch den
Investitionskredit.
Aus Geld wird Gewinn
Der Investitionskredit ist eine kulturelle Erfindung, die in ihrer Wirkung
unvergleichlich ist. Kein anderer menschlicher Einfall hat die Welt so
geformt, verändert und auch zerstört. Denn der Investitionskredit hat eine
wundersame Macht: Er lässt die Wirtschaft exponentiell wachsen. Dabei ist
die Idee eigentlich schlicht. Man nimmt einen Kredit auf und fertigt damit
ein Produkt - um hinterher noch mehr Geld zu haben. Kurz, man investiert,
um Gewinn zu machen.
Dieser einfache Zusammenhang ist in jedem Geschäftsbericht einer jeden
Firma nachzulesen. Man könnte ihn für ein Naturgesetz halten. Doch
tatsächlich funktionierten die menschlichen Gemeinschaften über
Jahrtausende völlig anders. Es gab zwar Geld, sogar Kredite - doch damit
wurde nicht investiert, sondern konsumiert. Auch die Römer kannten schon
die Dampfkraft, aber genutzt wurde sie nicht. Den römischen Senatoren war
der Gedanke völlig fremd, dass sie den Ernteertrag ihrer riesigen
Ländereien gezielt "optimieren" könnten. Stattdessen liehen sie sich lieber
Geld, um ihre Villa zu verschönern oder noch mehr Sklaven anzuschaffen.
Doch nun ist der Investitionsgedanke in der Welt und erfasst jeden. Selbst
Kleinsparer fragen sich in dieser Weihnachtszeit besorgt, wie sie ihr Geld
vor dem nächsten Crash retten können. Für einen römischen Senator hätte
sich dieses Problem gar nicht gestellt. Er hätte sich eine weitere teure
Marmorkopie einer griechischen Statue gegönnt. Doch für den
kapitalistischen Bundesbürger ist klar, dass sein Geld angelegt werden
muss. Es soll "arbeiten" und auch künftig Gewinn abwerfen. Das ist eine
echte Herausforderung in einer Zeit, in der alle versuchen, ihr Geld vor
dem Crash zu retten.
Zwei Millionen für eine Villa
Bizarre Anekdoten machen die Runde bei den Adventskaffees. So haben
Bekannte von Bekannten angeblich versucht, in Tinnum auf Sylt noch schnell
ein Haus zu kaufen. Zwei Millionen Euro waren sie bereit zu zahlen. "In
Tinnum!" Wer Sylt nicht kennt: Der Ort liegt nicht am Strand und ist noch
hässlicher als Gütersloh. Doch selbst zwei Millionen Euro haben nicht
gereicht, um diese falsch platzierte Protzimmobilie zu erwerben. Andere
Crash-Paniker waren schneller.
Im Kampf um die besten Investitionsmöglichkeiten gehen die Angebote aus.
Überall steigen die Preise und die Kurse - ob bei Aktien, Rohstoffen, Gold
oder Häusern. Die Angst um die Zukunft macht die Zukunft teuer.
Die Frage drängt sich auf, ob das Investment noch lohnt. Zumal Kleinsparer
nicht mit den reichen Preistreibern konkurrieren können. Die untere Hälfte
der deutschen Haushalte besitzt weniger als 15.000 Euro an Vermögen, wie
das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung 2009 ermittelte. Das reicht
für keine Eigentumswohnung. Was soll man also damit machen?
Naheliegend wäre: Verzweiflungskonsum. Wer den Crash fürchtet, der könnte
sein Geld auch gleich ausgeben. Doch von Panikkäufen ist nichts zu sehen,
obwohl im Weihnachtsgeschäft erstaunliche 660.000 neue Fernseher erworben
wurden. Aber das war schon der einzige Rekord.
Zwei Erklärungen bieten sich an. Entweder hängt der Bundesbürger an seinem
Ersparten. Oder aber er glaubt doch nicht an den Crash, sondern flirtet nur
mit der Panik beim Advents-Geplauder. Wie immer man es deutet: In beiden
Fällen wären die Deutschen gut gelernte Kapitalisten, die ihrem Konzept von
Geld und Zukunft nicht entkommen können.
24 Dec 2010
## AUTOREN
Ulrike Herrmann
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