# taz.de -- Autonomiebestrebungen in Kurdistan: Kurden schockieren die Türkei | |
> Ein Bündnis kurdischer Organisationen fordert die Unabhängigkeit durch | |
> eigene Sprache, Regierung, Armee, Flagge und Hymne. Ministerpräsident | |
> Erdogan spricht von Sabotage. | |
Bild: Eine kurdische Fahne gibt es schon, nun geht es um ihre Anerkennung. | |
ISTANBUL taz | Erstmals in der langen Auseinandersetzung um die Rechte der | |
kurdischen Minderheit in der Türkei hat jetzt eine einflussreiche Gruppe | |
kurdischer Intellektueller einen Plan für ein autonomes Kurdistan innerhalb | |
der Türkei vorgelegt. Das Autonomie-Modell, das auf Vorstellungen des | |
inhaftierten PKK-Chefs Abdullah Öcalan zurückgeht, beschränkt sich nicht | |
auf die Forderung, Kurdisch als zweite Amtssprache einzuführen. Es | |
beschreibt eine kurdische Region, deren Autonomie nicht mehr weit von einer | |
staatlichen Unabhängigkeit entfernt ist. | |
Gefordert werden nicht nur ein eigenes Parlament und eine regionale | |
Regierung, sondern auch eine eigene Flagge und Hymne sowie eigene | |
Streitkräfte. Hinter der Erklärung stehen sowohl die militante PKK als auch | |
auch die legale kurdische Partei BDP und ein breites Spektrum unabhängiger | |
Kurden. Obwohl der Vorsitzende der kurdischen BDP, Selahattin Demirtas, das | |
Autonomiemodell als Diskussionsvorlage deklarierte, gaben sich Regierung | |
und Opposition sowie der größte Teil der veröffentlichen Meinung schockiert | |
über die weitgehenden Forderungen, die aus der kurdischen Region erhoben | |
wurden. | |
Ministerpräsident Tayyip Erdogan reagierte ungewöhnlich harsch auf die | |
"demokratischen Autonomiepläne". Der Vorschlag sei eine "Sabotage des | |
gesamten demokratischen Prozesses in der Türkei". Solche Vorschläge würden | |
den sozialen Frieden gefährden. Wer Türkisch als alleinige Amtssprache | |
infrage stelle, gefährde die Einheit des Landes. "Diese Leute", befand er | |
während der Budgetdebatte im Parlament, "repräsentieren nicht die Kurden, | |
die ich kenne. Wen vertreten sie überhaupt?" | |
Umgehend schlug Demirtas zurück. An die Adresse des Ministerpräsidenten | |
gerichtet, sagte er: "Der Wandel ist auch mit Drohungen nicht aufzuhalten. | |
Damit spaltet Erdogan vielmehr das Land." Doch was angesichts des verbalen | |
Schlagabtausches aussieht wie die Vorstufe zu neuen Kämpfen, ist derzeit | |
nur eine Seite der Medaille. Im Stillen versuchen Regierung und wichtige | |
kurdische Politiker die Voraussetzungen zu schaffen, damit der derzeitige | |
Waffenstillstand, den die PKK während des Ramadan im September erklärt und | |
anschließend verlängert hatte, möglichst in eine andauernde Waffenruhe | |
übergeht. | |
Um dieses Ziel zu erreichen, hat die Regierung Erdogan sich klammheimlich | |
von dem bislang wie ein Mantra vorgetragenen Dogma "Mit Terroristen reden | |
wir nicht" verabschiedet und führt zumindest indirekte Gespräche mit dem | |
ehemaligen Staatsfeind Nr. 1, dem auf der Insel Imrali inhaftierten | |
PKK-Chef Abdullah Öcalan. | |
Vermittlerin zwischen Regierung und Öcalan ist die Anwältin und frühere | |
Vorsitzende der inzwischen verbotenen kurdischen Partei DTP, Aysel Tugluk. | |
Sie hat mit Zustimmung aus Ankara Öcalan auf der Gefängnisinsel Imrali | |
mehrmals besuchen können und dessen Ja zu einer Verlängerung des | |
Waffenstillstands bis zu den Parlamentswahlen im kommenden Juni eingeholt. | |
Parallel dazu verhandelt die türkische Regierung auch mit dem Chef der | |
nordirakischen kurdischen Regionalregierung, Massud Barsani, und dem | |
irakischen Staatspräsidenten, dem Kurden Dschalal Talabani darüber, wie | |
eine Demilitarisierung der PKK in deren Rückzugsgebieten im Nordirak | |
aussehen könnte. So wird beispielsweise überlegt, ob die irakischen Kurden | |
mithilfe der UNO die Waffen der PKK einsammeln könnten, wenn es zu einer | |
Verständigung der Militanten mit der Regierung kommt. | |
Das demokratische Autonomiemodell, das jetzt von den Kurden vorgestellt | |
wurde, ist die Rechnung Öcalans, die er Erdogan für seine Zustimmung zum | |
Waffenstillstand präsentiert. Die zur BDP gehörenden kurdischen | |
Bürgermeister im Südosten des Landes haben bereits angekündigt, demnächst | |
auch ohne Zustimmung aus Ankara überall zweisprachige Orts- und | |
Verkehrsschilder aufzustellen. So treiben die Kurden die AKP-Regierung vor | |
sich her, weil Erdogan im bevorstehenden Wahlkampf keinen Bürgerkrieg haben | |
will, sondern vielmehr auf kurdische Stimmen hofft. | |
Um aber die Wähler im Westen nicht zu verprellen, wird es bis zu den Wahlen | |
seitens der Regierung kaum neue Vorschläge zur Lösung der Kurdenfrage | |
geben. Die öffentlichen Debatten werden deshalb zunächst keine Ergebnisse | |
hervorbringen, sondern dienen vor allem dazu, die eigenen Anhänger bei | |
Laune zu halten. | |
30 Dec 2010 | |
## AUTOREN | |
Jürgen Gottschlich | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Regierung Erdogan geht gegen Minderheit vor: Kurden von den Wahlen ausgeschloss… | |
Die Wahlkommission untersagt zwölf Kandidaten Teilnahme an der Abstimmung | |
am 12. Juni. Jetzt könnte auch die Kurden-Partei BDP einen Rückzieher | |
machen. | |
Kurden-Konflikt in der Türkei: Noch schweigen die Waffen | |
In Kürze beendet die PKK ihren einseitigen Waffenstillstand. Jetzt wartet | |
sie auf weitere politische Signale der Regierung. Die Gefahr einer erneuten | |
Eskalation wächst. |