# taz.de -- Montagsinterview mit Radkurier Patrick Vobis: "Ich komme eigentlich… | |
> Ein winziges Büro in einem Friedrichshainer Altbau. Eine einsame | |
> Energiesparlampe und ein Computerbildschirm spenden Licht, an der Wand | |
> hängt ein riesiger Stadtplan, übersät mit Zetteln. Hinter dem Bildschirm | |
> sitzt Patrick Vobis, Fahrradkurier und Mitinitiator des Kurierdienstes | |
> Fahrwerk. Während des Gesprächs melden sich immer wieder Kuriere über | |
> Funk. Vobis dirigiert sie durch die Stadt. | |
Bild: Schlechtes Wetter kennt er nicht, dafür ist er stets passend gekleidet: … | |
taz: Herr Vobis, es sind minus 10 Grad, Sie müssen aufs Rad und Sendungen | |
von A nach B befördern. Was ziehen Sie an? | |
Patrick Vobis: Viel. Mindestens zwei Sporthosen aus Kunststoff. Darüber | |
eine Regenhose, zwei Paar Socken, Schuhe, darüber Neoprenüberzieher, | |
Handschuhe, ein T-Shirt und drei Jacken. Ach so, und eine Sturmmaske. | |
Und das hilft? | |
Beim Fahren geht es. Aber sobald man irgendwo steht, kriegt man ganz | |
schnell kalte Hände und Füße. Fies ist natürlich, dass man bei Schnee noch | |
länger unterwegs ist als sonst, weil man nicht so schnell fahren kann. | |
Sind das Momente, in denen Sie sich fragen, warum Sie Fahrradkurier | |
geworden sind? | |
Also das Frieren ist vielleicht mal eine halbe Stunde so schlimm, dass man | |
denkt, ich will nach Hause. Meist kommt die Kälte schubweise. | |
Sie wünschen sich also nie, doch einen Bürojob zu machen? | |
Bestimmt, aber da müsste ich lange überlegen. Vielleicht, wenn der Schnee | |
einem mit so richtig scharfem Wind ins Gesicht bläst. Das Allerschlimmste | |
sind aber um die 0 Grad und Regen. Dann ist einem einfach nur kalt. In | |
diesen Momenten würde ich tatsächlich lieber im Büro sitzen. Aber | |
eigentlich ist Fahrradkurier mein Traumjob. | |
War das schon immer so? Andere wollten Arzt werden oder Pilot und Sie | |
Fahrradkurier? | |
Genau. Ich bin in Nordrhein-Westfalen aufgewachsen und mit Freunden jedes | |
Wochenende oder nach der Schule mit dem Rad durch die Gegend gefahren. Man | |
sieht das ja auf dem Land, die Papageien, die da mit ihren Trikots | |
herumfahren - nur dass wir nicht so dämlich aussahen. | |
Sie hatten keine Trikots? | |
Nein, wir hatten keinen so strengen Dresscode. Auf jeden Fall sind wir in | |
der Gruppe immer so 50, 60 Kilometer gefahren, und ich fand das toll. So | |
toll, dass ich es zum Beruf machen wollte. | |
Und Ihre Eltern haben die Hände über den Kopf zusammengeschlagen, weil Sie | |
keine Ausbildung machen wollten. | |
Ich habe erst mal eine kaufmännische Ausbildung gemacht und dann Papier | |
verkauft. Aber ich habe mich in meinem Beruf tierisch gelangweilt. Ich saß | |
täglich im Büro, acht bis zehn Stunden. Irgendwann habe ich mich schon | |
morgens schlecht gefühlt, weil ich wusste, ich muss zur Arbeit. Man | |
verdrängt das eine Zeit lang und läuft einfach so mit. Aber dann kam die | |
Unzufriedenheit immer stärker durch. | |
Das Funkgerät piept und knackt. "Eins sechs", sagt eine Frauenstimme. "Eins | |
sechs", antwortet Vobis. "Wir haben jetzt übergeben", sagt die Frau. "Alles | |
klar, dann fährst du nach Neukölln. Aina, fährst du mal bitte Richtung | |
Friedrichstraße Ecke Tor-", sagt Vobis. "Okay", kommt es aus dem Funkgerät. | |
"Vier zwo", sagt Vobis. "Hört mich vier zwo?" Keine Antwort. Vobis legt das | |
Mikro beiseite. "Dann eben gleich." | |
Ihr erster Arbeitstag als Kurier in Berlin, wie war der? | |
Schlimm. Ich war erst sechs Wochen in der Stadt und hatte den riesigen | |
Falkplan vor mir. Alles, was ich kannte, war ein bisschen von | |
Friedrichshain, weil ich dort gewohnt habe, Unter den Linden und | |
Friedrichstraße, wo man die ersten Tage mal ist, wenn man nach Berlin | |
kommt. Also im Prinzip gar nichts. Ich bin im Vortastsystem gefahren und | |
habe alle zwei Kilometer geschaut, ob ich noch richtig bin. Es hat | |
mindestens einen Monat gedauert, bis ich einen groben Überblick hatte und | |
einigermaßen die Hauptstraßen kannte. Nach drei Monaten gings dann. | |
Ist es schwieriger, in Berlin als Fahrradkurier zu arbeiten als in einer | |
anderen Stadt? | |
Berlin ist einfach megagroß. Wir hatten im Sommer einen Kurier aus Bremen | |
da. Der sagte, er hat auch einen Falkplan, der ist genauso groß ist wie der | |
von Berlin, aber er habe ständig auf die Karte geguckt und sich gewundert, | |
dass er nur so Ministückchen vorangekommen ist. Die Dimension ist echt eine | |
andere. | |
Aber mittlerweile klappts? | |
Ja. Aber auch wenn ich zehn Jahre fahre, werde ich noch Lücken haben. Der | |
einzige Vorteil ist, dass ich gerade mit Freunden die Firma aufbaue und | |
tatsächlich jeden Kunden kenne, der dazukommt - und damit auch weiß, wo der | |
sitzt. Wenn man dagegen als Neuling zu einem großen Kurierunternehmen | |
kommt, wird man einfach die ganze Zeit durch die Gegend geschickt. | |
Was haben Sie immer dabei, wenn Sie unterwegs sind? | |
Eine Gabel und ein Messer. | |
Wieso das? | |
Na ja, so viel verdient man in dem Job auch nicht. Und am billigsten ist es | |
halt, sich etwas von zu Hause mitzunehmen oder in den Supermarkt zu gehen | |
und einen Topf Oliven und Käse zu kaufen. | |
Wie halten Sie es mit einem Helm? | |
Ich würde sagen, so dreimal die Woche ziehe ich ihn an, zweimal nicht. | |
Heute hatte ich ihn an. | |
Und nach welchem System? | |
Ach, unterschiedlich. Einmal ist es Stilsache, ein andermal denkt man: | |
Heute schneit es, die Straßen sind rutschig, machen wir mal ein bisschen | |
auf Sicherheit. | |
Ist Ihnen mal was passiert? | |
Ja. Am 14. November 2008: Ich war auf der Brunnenstraße Ecke Torstraße | |
unterwegs und bin an den wartenden Autos vorbeigefahren. Ja, das darf man! | |
Ein abbiegendes Auto kam aus dem Gegenverkehr, und der Fahrer hat | |
offensichtlich nicht bedacht, dass auch Fahrräder unterwegs sein können. | |
Ich bin in die hintere Beifahrertür geknallt. | |
Mit Helm? | |
Ja. Trotzdem gab es ein Schädel-Hirn-Trauma und mehrere Brüche und | |
Prellungen. Ich habe die Nacht im Krankenhaus verbracht und bin mit Gips | |
nach Hause gekommen. | |
Wie war es, nach dem Unfall wieder aufs Rad zu steigen? | |
Die erste Woche hatte ich schon ein mulmiges Gefühl. Da bin ich auch immer | |
mit Helm gefahren, bestimmt drei, vier Monate lang. Dann wurde es wieder | |
ein bisschen lazy und die Angst ging weg. Negative Erinnerungen verdrängt | |
man ja relativ schnell. | |
Auch ohne Unfälle ist Radfahren in Berlin nicht immer angenehm. | |
Das stimmt. Neuss, wo ich herkomme, ist viel ungefährlicher. Da ist einfach | |
nicht so viel Verkehr. Und dann gibt es Städte wie Amsterdam, da müssen die | |
Autofahrer warten, sonst kriegen sie echt Haue. Dafür steht man dann im | |
Fahrradstau. Ich weiß nicht genau, was mir lieber ist. | |
Hier steht man als Radler oft im Autostau, weil man nicht an der Schlange | |
vorbeikommt. | |
Also ich komme eigentlich immer überall vorbei. | |
Echt? | |
Fast immer. Es gibt derzeit eine Baustelle mit Gittern am Wittenbergplatz, | |
wenn da ein Bus steht, komme ich auch nicht dran vorbei. Aber sonst | |
eigentlich schon. | |
Wie risikofreudig sind Sie? | |
Ich würde nicht über rote Ampeln fahren, wenn auf der Kreuzung viel Verkehr | |
ist. Das mache ich nur, wenn der Mensch im Auto keine Angst haben muss, | |
mich zu erwischen. Auf der Friedrichstraße, auf der in beiden Richtungen | |
relativ viel Verkehr ist, würde ich aber schon in der Mitte fahren, um an | |
den Autos vorbeizukommen. Ich habe keine Angst vor einem Auto, das mir | |
entgegenkommt, wenn ich ein bisschen auf dessen Streifen fahre. | |
Ist das die Herausforderung beim Kurierfahren: die Stadt als Parcours, als | |
eine Art Spielplatz? | |
Ja, schon. Die meisten Kuriere haben auch etwas Kindisches. | |
Inwiefern? | |
Es sind schon Leute, die sich treffen, um Spaß zusammen zu haben, abends | |
gemeinsam weggehen, Wettrennen fahren. | |
Also eine eigene Szene. | |
Es gibt natürlich auch Kuriere, die das nur machen, weil sie nicht wissen, | |
wie sie sonst ihr Essen und ihre Wohnung bezahlen sollen. Aber die | |
allermeisten gehören schon zu einer Szene. | |
Was macht die aus? | |
Kuriere sind größtenteils jüngere Leute so zwischen 18 und 35 Jahren. | |
Einige studieren nebenbei, andere machen das hauptberuflich. Äußerlich | |
erkennt man sie an einem gewissen Kleidungsstil. Man trägt kurze Hosen mit | |
vielen Taschen, um sein ganzes Zeug zu verstauen - auch über der langen | |
Hose. Ringelsocken sieht man auch häufig. Die Szene geht auch über eine | |
Region hinaus. Zum Beispiel waren letztes Jahr im Sommer die | |
Europameisterschaften in Berlin. Da merkt man schon, dass ein Zusammenhalt | |
da ist. | |
Das Funkgerät knackt, es kommt Rauschen und Genuschel. "Wer rief?", fragt | |
Vobis. "Sechs zwo", sagt eine Männerstimme aus dem Gerät. "Okay, gibst du | |
mir die Schecknummer durch?", sagt Vobis. Die Stimme nennt ein paar Zahlen. | |
Dann klingelt das Telefon, Vobis klemmt sich den Hörer zwischen Ohr und | |
Schulter und nimmt einen Auftrag entgegen. | |
Wenn man in der Stadt Kuriere sieht, hat man den Eindruck, 80 Prozent sind | |
Männer. | |
Wahrscheinlich sind es sogar mehr. Wir haben immerhin bei elf Kollegen drei | |
Frauen. Das ist schon verdammt viel. Keine Ahnung, warum es in dem Job so | |
wenige Frauen gibt. Wir hätten auch gern mehr. | |
Warum? | |
Ich glaube, es tut einem Team gut, wenn sich die Gesellschaft ein bisschen | |
in ihm abbildet. Und nicht nur elf weiße deutsche Männer drin sind. | |
Gibt es in einem Kurierdienst überhaupt viel Teamarbeit - es fährt doch | |
sowieso jeder für sich? | |
Bei den meisten Diensten gibt es kein Team. Fahrradkurier zu sein ist | |
eigentlich ein Einzelkämpferding. Bei uns ist das etwas anders. Wir | |
arbeiten zusammen, etwa wenn Sendungen irgendwo übergeben werden. Wir legen | |
auch Wert darauf, dass jeder jede Arbeit kann. Und bei uns dürfen Leute | |
quer miteinander funken, um sich abzusprechen. | |
Sie nennen sich Kollektiv. Ist diese Arbeitsweise Teil des | |
Kollektivgedankens? | |
Auch. Ganz allgemein finde ich, dass man sozial miteinander umgehen sollte. | |
Das heißt für einen Kurierdienst, dass man nicht nach Auftrag bezahlt. | |
Sonst verdienen immer die mehr, die schon am längsten dabei sind und die | |
Aufträge mit den kürzesten Wegen bekommen. Daher rechnen wir nach Stunden | |
ab. | |
Haben Sie auch ein Plenum? | |
Ja, wir treffen uns ungefähr einmal die Woche. Wir machen alles im | |
Konsensprinzip: von der Preisstruktur bis zur Frage, ob wir Aufträge | |
annehmen. | |
Zum Beispiel? | |
Vor einigen Wochen kam ein Auftrag von einer Art Inkassobüro. Die kaufen | |
Rechnungen auf und machen säumige Zahler ausfindig. Der Job war, zu | |
bestimmten Adressen hinzufahren und zu schauen, ob dort ein bestimmtes | |
Namensschild hängt. | |
Und? | |
Wir haben uns nicht geeinigt. Daher haben wir den Auftrag nicht angenommen. | |
Das ist natürlich doof, denn das hätte monatlich 500, 600 Euro gebracht. | |
Ist der Kurierdienst auch eine Investition in Ihre eigene Zukunft? | |
Ja klar. Es zielt schon ein bisschen darauf ab, dass man nicht immer | |
draußen ist, sondern auch mal Bürotätigkeiten macht. Ich weiß nicht, wie | |
lange man Kurier sein kann - ich kenne jemanden, der das noch mit 60 macht. | |
Aber das ist wohl eher die Ausnahme. | |
Aber momentan investieren Sie Ihre gesamte Zeit in die Arbeit. | |
Ja, im Moment schon. Das wird sich aber hoffentlich im März ändern, da | |
werde ich nämlich Vater. Dann will ich nur noch zwei Tage die Woche viel | |
arbeiten müssen. Ich will schon gerne aktiv bei der Erziehung mitwirken. | |
Und nicht eines Tages feststellen, oh, mein Kind geht in die Schule. Oder | |
es hat den Führerschein gemacht. Das hoffentlich sowieso nicht. | |
"Eins sechs", sagt die Frauenstimme aus dem Funkgerät. "Eins sechs", | |
antwortet Vobis. "Ich bin fertig", sagt die Frauenstimme. "Dann fährst du | |
auch mal nach Hause", sagt Vobis. "Gute Nacht." Er legt das Mikro auf den | |
Tisch. | |
Sie haben keinen Führerschein? | |
Doch. Noch. | |
Wieso noch? | |
Ich bin über ganz viele rote Ampeln gefahren. | |
Als Radfahrer? | |
Genau. Ich hätte zur Medizinisch-Psychologischen Untersuchung gehen können, | |
aber das kostet wieder Geld und Zeit. Daher werde ich ihn wohl abgeben. | |
Wie reagieren Polizisten, wenn sie Sie rausziehen? | |
Viel an Gespräch findet da nicht statt. Führerschein, Personalien. Eine | |
Belehrung versuchen die gar nicht. Ich habe aber das Gefühl, dass Kuriere | |
eher rausgezogen werden. Wenn zum Beispiel mehrere Radfahrer über Rot | |
fahren, werde ich eher angehalten. | |
Wie viel mussten Sie schon zahlen? | |
Viel. Meine teuerste Ampel kostete 180 Euro. | |
Und was machen Sie, wenn der Nachwuchs eines Tages auch Kurier werden will? | |
Kein Problem. Die Ringelsocken sind gekauft. | |
9 Jan 2011 | |
## AUTOREN | |
Svenja Bergt | |
Svenja Bergt | |
## TAGS | |
Fahrrad | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Fahrradkuriere in Berlin: „Weltbester Job, nur schlecht bezahlt“ | |
Sandra Thiel fährt als Kurierin zweimal pro Woche durch Berlin. Dass sie | |
schlecht bezahlt wird, stimmt. Aber da ist dieses Gefühl von Freiheit. Ein | |
Protokoll |