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# taz.de -- Jugendrebellion in Nordafrika: Die Wut von 23 Jahren
> Trotz des gewalttätigen Vorgehens von Polizei und Armee dauert die
> Jugendrebellion in Tunesien an. Augenzeugen berichten der taz von
> bürgerkriegsähnlichen Zuständen.
Bild: Demonstrieren gegen Preiserhöhungen und Arbeitslosigkeit: junge Tunesier…
MADRID taz | Der Ruf spricht für sich: "Wir haben keine Angst", skandieren
in Tunesien die jungen Demonstranten und wehren sich mit Steinen und
Molotowcocktails gegen Spezialeinheiten der Polizei und schwer bewaffnete
Soldaten.
In mindestens fünf Städten - Kasserine, Thala, Rgueb, Meknessi und Feriana
- haben diese am Wochenende mit Schusswaffen Demonstrationen aufgelöst;
laut Innenministerium starben 14 Menschen dabei. Internationale
Presseagenturen sprechen von 23 Opfern; die Menschenrechtsorganisation
Nationaler Rat für Freiheit in Tunesien (CNLT) veröffentlichte am Montag
sogar eine Liste mit 50 Namen. "Die Lage kennt kein Zurück mehr", schreibt
ein Blogger.
Am schlimmsten gewütet haben Armee und Polizei der
Menschenrechtsorganisation CNLT zufolge in Thala, 230 Kilometer südwestlich
der Hauptstadt Tunis. Mehrere Menschen seien bei einer Demonstration
getötet worden; die Krankenhäuser seien völlig überfüllt. "Wohnungen wurden
gewaltsam durchsucht und Festnahmen unter Jugendlichen durchgeführt", heißt
es in einem Kommuniqué.
Die Jugendlichen seien nach Angaben ihrer Familien aus dem Stadtzentrum
gebracht worden. "Mehrere von ihnen wurden später in der Nähe des
Friedhofs, von Kugeln durchsiebt, in einem Flussbett aufgefunden." Das
Innenministerium hingegen erklärt: "Die Polizei hat das Feuer in
gerechtfertigter Selbstverteidigung eröffnet, nachdem sie mit Warnschüssen
versucht hatte, die Demonstranten davon abzuhalten, öffentliche Gebäude
anzugreifen."
Der Aufstand der tunesischen Jugendlichen begann vor drei Wochen in Sidi
Bouzid, der Hauptstadt einer landwirtschaftlichen Provinz. Dort übergoss
sich am 17. Dezember der arbeitslose 26-jährige Mohamed Bouazizi mit Benzin
und steckte sich selbst in Brand, nachdem die Polizei seinen Karren, mit
dem er als fliegender Händler Gemüse verkaufte, beschlagnahmt und ihn auf
der Wache misshandelt hatte. Bouazizi, der vergangenen Dienstag seinen
Verletzungen erlag, teilte das Schicksal vieler seiner Altersgenossen.
Trotz Hochschulstudium fand er keine Arbeit. Über 30 Prozent der jungen
Tunesier ergeht es ähnlich. Mittlerweile haben mindestens drei weitere
Tunesier öffentlich Selbstmord begangen.
Die Selbstverbrennung löste eine Welle von Protesten gegen die soziale Not
und die Korruption aus. Denn ohne Bestechung gibt es in Tunesien kaum Jobs.
"Nieder mit Ben Ali!", fordern die Demonstranten den Rücktritt des seit 23
Jahren diktatorisch herrschenden Präsidenten Zine El Abidine Ben Ali.
Trotz eines großen Aufgebots von Polizei und Armee kam es am Montag erneut
im ganzen Land zu Demonstrationen und Sit-ins. "In Kasserine, nahe der
algerischen Grenze, setzte die Polizei abermals Schusswaffen ein, dabei gab
es wieder Tote", berichtet ein Anwalt aus der Hauptstadt Tunis am Telefon.
Studenten, Gymnasiasten sowie Anwälte hätten in mindestens einem Dutzend
Städten zu Trauerdemonstrationen für die Toten von Wochenende gerufen. Der
Anwalt, der Ende Dezember von der Polizei einen Tag lang entführt worden
war, berichtet von Straßenschlachten in mehreren Vierteln von Tunis.
Eine junge Studentin aus Sidi Bouzid weiß von ähnlichen Szenen in Reueb im
Zentrum des Landes sowie in der heiligen Stadt Kairouan und im Küstenort
Sousse. Nichts deutet auf ein Ende der Gewalt hin. "Sidi Bouzid ist
regelrecht besetzt", erklärt die junge Frau, die auf mehreren Blogs
schreibt, am Telefon. Und Regueb, 38 Kilometer entfernt, ist von
Spezialeinheiten der Polizei eingekesselt. "Dort schießen die Soldaten
wieder scharf", erklärt sie. Ob erneut Tote zu beklagen sind, wusste die
junge Frau nicht zu sagen. Weder sie noch der Anwalt wollen ihren Namen
gedruckt sehen.
Auch Thala ist vollständig von der Außenwelt abgeschlossen. Das
Telefonnetz, Handyverbindungen und Internet wurden gekappt. "Wie es
weitergeht, weiß keiner zu sagen", berichtet die Bloggerin. "Es geht das
Gerücht um, dass der Präsident heute Abend eine Fernsehansprache halten
wird." Ben Ali habe seine Familie bereits außer Landes gebracht, lautet ein
anderes Gerücht, das sich wacker im Internet hält. 150 einflussreiche
Geschäftsmänner aus dem Umfeld des Präsidenten seien ebenfalls ausgereist.
10 Jan 2011
## AUTOREN
Reiner Wandler
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