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# taz.de -- Oppositionelle über die Lage in Tunesien: "Die EU ist Komplize des…
> Beim Volksaufstand in Tunesien geht es nicht allein um die
> wirtschaftliche Lage. Sondern ebenso um Bürgerrechte und Würde, sagt die
> tunesische Oppositionelle Sihem Bensedrine.
Bild: Gewaltausbruch in Tunesien: Aufstand von Jugendlichen in Sidi Bouzid.
taz: Frau Bensedrine, Tunesien galt als das ruhigste und modernste Land
Nordafrikas. Woher kommt plötzlich diese Wut der jungen Leute?
Sihem Bensedrine: Wir Menschen- und Bürgerrechtler warnen seit Jahren
davor, dass die repressive Politik von Präsident Zine El Abidine Ben Ali zu
einem solchen Gewaltausbruch führen wird. Leider hat uns niemand zugehört.
In Tunesien haben nicht nur die jungen Menschen keinerlei Rechte, sondern
die Bürger im Allgemeinen. Alle Versuche, das Land so darzustellen, dass
alles hervorragend läuft, sind nichts als Marketing. Die Revolte hat dem
Regime diese Maske heruntergerissen.
Wie konnte das Regime dieses Bild so lange aufrechterhalten?
Alle Welt starrt gebannt auf Nordafrika und sieht dabei nur die Gefahr des
Terrorismus. Das tunesische Regime hat diese Ängste genutzt und völlig
übertrieben, um damit die repressive Politik zu begründen und Unterstützung
dafür zu bekommen. Ben Ali hat alle sogenannten Antiterrorgesetze dazu
benutzt, jedwede Freiheit zu beschneiden.
Es entsteht der Eindruck, dass Ben Ali die relative Ruhe und Stabilität mit
einer erfolgreichen Wirtschaftspolitik erreicht hat und nun in der
internationalen Wirtschaftskrise die Unruhen ausbrechen.
Es sind nicht nur die wirtschaftliche und die soziale Lage, die zur Revolte
geführt haben. Der junge Arbeitslose, der sich am 17. Dezember in Sidi
Bouzid mit Benzin übergossen und in Brand gesteckt hat, hat dies nicht
wegen seiner wirtschaftlichen Notlage getan, sondern weil sein Wagen, mit
dem er Gemüse verkaufte, immer wieder beschlagnahmt und er immer wieder auf
der Polizeiwache misshandelt wurde. Die Beamten erpressten Geld von ihm. Es
ist ein Summe von Frustrationen, die die junge Menschen bewegt. Die Revolte
ist ein Ausdruck des Frusts über die soziale Ungerechtigkeit. Aber es geht
auch darum, die eigene Würde zurückzuerobern.
Ist das der Anfang vom Ende des Ben-Ali-Regimes?
Ich bin mir sicher, dass Ben Ali diese Revolte nicht übersteht.
Wer könnte in diesem Fall seinen Platz einnehmen?
Genau das ist das Problem. Es gibt keine organisierte politische
Opposition. Das Regime hat alle friedlichen Alternativen systematisch
zunichtegemacht, angefangen bei den demokratischen Parteien bis hin zu den
politischen Islamisten. Europa hat dabei zugeschaut. Ich weiß nicht, wer
die Rolle einer Führungskraft übernehmen könnte.
Irgendwie muss die Unzufriedenheit doch in politische Bahnen gelenkt
werden.
Es handelt sich um einen Volksaufstand. Die Menschen wollen dieses Regime
nicht mehr. Die einzige Kraft, die derzeit in Tunesien funktioniert, ist
die Gewerkschaftszentrale UGTT. Sie hat sich öffentlich hinter die
Demonstrationen gestellt und verlangt, dass Polizei und Armee abgezogen
werden. Viele Demonstrationen treffen sich an den örtlichen
Gewerkschaftshäusern. Die Gewerkschaft hat den Dialog mit dem
Ministerpräsidenten abgebrochen, weil er sich geweigert hat, über die
Unruhen und das gewaltsame Vorgehen der Polizei und der Armee zu reden.
Gibt es innerhalb der Regierungspartei RCD Kräfte, die willens sind, sich
an einem friedlichen Übergang zu einem demokratischen Tunesien zu
beteiligen?
Es gibt eine starke Strömung, die mit der Vorgehen Ben Alis nicht
einverstanden ist. Ob und was sie vorbereiten, weiß ich allerdings nicht.
Das könnte eine Alternative sein, wäre aber sicher wünschenswert.
Wenn ich Sie richtig verstehe, machen Sie Europa für das, was in Tunesien
passiert, mitverantwortlich.
Die Europäische Union ist ganz direkt verantwortlich für das, was in
Nordafrika geschieht. Die EU stellte sich blind und taub angesichts der
Berichte aus Tunesien. Es gibt in Tunesien kein Wirtschaftswunder und auch
kein soziales Wunder, wie immer wieder behauptet wird. Es gibt überhaupt
kein Wunder. Die Massaker der letzten zwei Tage begannen, einen Tag nachdem
der tunesische Außenminister in Frankreich zu Besuch war. Das ist sicher
kein Zufall.
Sie glauben, dass Frankreich dieses Vorgehen gebilligt hat?
Die Tatsachen sprechen für sich. Frankreich hat die Diktatur Ben Alis von
Anfang an unterstützt. Die Spezialeinheiten rückten am Tag nach dem
Frankreichbesuch aus. Es gibt mehr als 50 Tote, und die internationale
Gemeinschaft reagiert nicht. Egal ob in Birma oder sonst wo, die EU
protestiert immer. Und jetzt bei Tunesien, das eineinhalb Flugstunden von
Paris entfernt ist, schweigt Europa. Die EU ist damit Komplize dieses
kriminellen Regimes.
11 Jan 2011
## AUTOREN
Reiner Wandler
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