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# taz.de -- Indischer Bundesstaat Kerala: Devisen statt Enkel
> Das Hochland von Wayanad im Nordosten Keralas ist ein tropisches
> Paradies. Doch der stete Zustrom von Kapital aus den Golfstaaten
> verändert das Gesicht der Region.
Bild: Wintertraum: am Strand im Norden Keralas.
Indien gilt unter Reisenden als anstrengend, doch oft kann es wunderbare,
vollkommen unerwartete Annehmlichkeiten bereithalten. Etwa das Privileg,
sich auch in großen Städten als einziger internationaler Tourist
wiederzufinden. Auch nach zwei Tagen in Kozhikode, einer quirligen
Küstenstadt im Norden Keralas, finden sich Ausländer nur beim Blick in den
Hotelzimmerspiegel. Dass die gängigen Reiseführer die drittgrößte Stadt des
Bundesstaats meist zum bloßen Transitstopp zwischen Goa und Cochin
degradieren, erweist sich als Glücksfall. Was den Lonely Planetariern und
ihrem Gefolge entgeht, genießen Abweichler umso mehr: Freundliche Blicke,
euphorisches Hallo und stetig neue Straßenbekanntschaften, die sich schon
nach fünf Minuten fast in Freundschaften fürs Leben verwandeln.
Selbst als wir nach langer Exkursion durch die angenehm gesichtslose Stadt
in einem Restaurant ausruhen wollen, geht der Meet-and-Greet-Marathon
ungefragt in die nächste Runde. Die Ankunft der Außerindischen versetzt die
Kellnerriege in Verzückung. Selbst die Küchenkräfte legen kurz ihre Töpfe
beiseite und treten zögernd an den Tisch, um zu erfahren, ob die servierten
Dosas, hauchdünne Brotpyramiden mit Kartoffelpaste, auch nach unserem
Geschmack seien. Of course Sir! Its delicous!
Inder sind kommunikationsstarke Leute, und wer das nicht fürchtet, sondern
mit gut gelaunter Ausdauer erwidert, begreift schnell: Die größte Sensation
in diesem Land ist man selbst. Zwei Tage Händeschütteln und
Schulterklopfen, Small Talk und Dauerlächeln reichen nicht zur Erleuchtung,
aber doch zu einem Hochgefühl wie Obama im Vorwahlkampf. Plötzlich ist man
das, was man daheim gern wäre: Ziemlich cool und begehrt, wunderbar
entspannt und gefragt. Doch kein Glück ohne Kehrseite.
Manche Reisende erleben Derartiges eher als Alptraum. Sedara, die erste
Westlerin, die wir hier schließlich doch noch treffen, ist mit den Nerven
ziemlich am Ende. An Kozhikodes gepflegtem Stadtstrand, wo Mangosaft
schlürfende Großfamilien unsere Begegnung mit amüsierter Distanz
beobachten, erzählt sie ihre Geschichte. Die Engländerin ist der Einladung
ihrer langzeitreisenden Tochter gefolgt, doch die hat ihre Mama nach
wenigen Tagen wieder verlassen, um sich zur Meditation in einen Ashram
zurückzuziehen. Sedara ist reiseerfahren und kennt Indien noch aus
Hippiezeiten. Doch hier und heute, allein und als Frau Mitte fünfzig sei
Indien einfach nur sehr, sehr anstrengend: „Its a drag.“ Zumal es mit ihrer
Gesundheit im Moment nicht zum Besten stehe. Wir äußern Bedauern, behalten
unsere Meinung über ihre Tochter aber für uns. Offenbar zählt der Nachwuchs
zu jener Sorte Indienfans, die viel von Spiritualität redet, aber nur
Egoismus praktiziert.
Auch in Kerala sind die Bande zwischen den Generationen nicht mehr so stark
wie noch vor wenigen Jahrzehnten. Weil der Bundesstaat über eine gut
ausgebildete Bevölkerung, aber nur wenige attraktive Arbeitsplätze verfügt,
verdienen viele Keraliten ihr Geld längst in den Boomregionen am Golf oder
im Westen. Die meisten, so die verbreitete Ansicht, werden kaum dauerhaft
zurückkehren.
„Wie sollen wir ohne Kinder und Enkel nur die Mühen des Alters ertragen?“,
lautet eine häufige Klage in den Leserbriefen der Zeitungen. Die
einschlägigen Antworten der Blätter könnten auch an deutsche Senioren
gerichtet sein: „Finden Sie ein anspruchsvolles Hobby! Werden Sie
wohltätig! Entdecken Sie das Reisen! Es gibt ein Leben ohne Kinder!“
Was der Region durch Abwanderung an familiärer Nestwärme verloren geht,
kehrt in Gestalt von Devisen zurück. Gelder aus den Emiraten sind längst
zur wichtigsten Einnahme des Bundesstaats geworden. Der stete Zustrom von
„Gulf money“ hat die Lebensbedingungen vieler Familien und Gemeinden
spürbar verbessert, aber auch das Tor für fragwürdige Investitionsprojekte
und Spekulation aufgestoßen. Selbst im Distrikt Wayanad, einer traumhaft
grünen Hochlandregion mit üppigen Kaffee-, Tee- und Gewürzplantagen,
Nationalparks und Wildtierbeständen, sind die Vorboten dieser Entwicklung
bereits zu erkennen.
Während der Linienbus die Serpentinen hinaufächzt und der schweißgebadete
Fahrer Horden furchtloser Makakenaffen von der Straße hupt, beginnen
Großplakate mit schicken Hochhäusern das Panorama zu verschandeln. Der
Baubeginn steht offenbar bevor. „Invest in Wayanad! Only three apartments
left!“
Auch nach der Ankunft in Kalpetta, einem quirligen Provinzkaff und
beliebter Startpunkt für Exkursionen, ist der neue Reichtum unübersehbar.
Neben Hindutempeln, Moscheen und Kirchen, die auch hier die besondere
multikulturelle Tradition Keralas dokumentieren, fallen zahlreiche
Juwelierläden ins Auge. Sie zielen auf eine neue Mittelschicht, die am
Wochenende nicht nur von der Küste, sondern auch aus der IT-Metropole
Bangalore anreist, um das Hochlandklima und Keralas liberale Alkoholgesetze
zu genießen.
Die ökologischen Verwerfungen des neuen Geldes deuten sich erst an. Die
Eigentümer des größten Hotels am Ort, eine islamische Familie, bauen mit
„Gulf money“ dreißig Kilometer weiter in unberührter Berglandschaft eine
weitläufige Bungalowanlage für betuchte Städter - Hubschrauberlandeplatz
inklusive. Was sich in Wayanad abspiele, sei „eine Katastrophe in
Wartestellung“, glaubt der Reiseveranstalter Gopinath Parayil, der mit
seinem Unternehmen auf Nachhaltigkeit setzt und sich im Süden Keralas für
Gewässerschutz und den Erhalt regionaler Kultur engagiert.
Die Katastrophe wird hoffentlich noch lange auf sich warten lassen.
Spaziergänger, die von Kalpettas geschäftiger Hauptstraße in die
Nebengassen abzweigen, finden sich schon nach fünf Minuten in einer
Kulturlandschaft, deren tropische Lässigkeit verzaubert. Knallbunte Häuser
mit gepflegten Vorgärten, dichte Plantagen und Wälder, exotische Vögel mit
noch exotischeren Singstimmen, fröhliche Schulkinder und staubige
Baseballfelder vermitteln zumindest dem Touristenauge eine Idylle, die
keiner Hotelspekulanten und Hubschrauberlandeplätze bedarf.
Auch Herr Hanifa, ein Grundbesitzer, der sich, nachdem er uns entdeckt hat,
zunächst misstrauisch gibt, fügt sich ins harmonische Gesamtbild. Die
Skepsis ist rasch verflogen und die Fremden werden zu einer Privatführung
durch die Umgebung eingeladen.
Der 45-Jährige hat noch nie woanders gelebt und kennt hier jeden und alles.
Sachkundig und geduldig erklärt er, was die Landleute beschäftigt: die
Affenfamilien in den dichten Baumkronen (“machen nichts als Ärger“), der
schlechte Zustand der Pfefferbäume (“böser Insektenschädling“), die gute
Qualität der Teepflanzen (“der beste Tee der Region“), die sinkenden
Weltmarktpreise für Kaffee (“ein schlimmes Problem“).
Dass der Zustrom von „Gulf money“ den kulturellen Zusammenhalt der Region
eines Tages aus den Angeln heben könnte, hält er für unwahrscheinlich: „Ich
bin Muslim, meine Freunde sind Hindus und Christen. Wir leben in Kerala
seit fünf Jahrhunderten bestens zusammen. Was sollte das neue Geld daran
ändern?“
12 Jan 2011
## AUTOREN
Martin Jahrfeld
## TAGS
Reiseland Indien
Kerala
Kerala
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