# taz.de -- Stadttheater-Intendant: Frischer Wind in Bremerhaven | |
> Ulrich Mokrusch ist seit Sommer 2010 Intendant des Stadttheaters - und | |
> überzeugt das Publikum mit ästhetisch klaren, politisch dezidierten | |
> Inszenierungen. Und manchmal tingelt er durch die Stadt. | |
Bild: Den Muff der 80er Jahre wegpusten: Ulrich Mokrusch. | |
Nicht lange fackeln, das Publikum gleich radikal mit dem neuen Geist des | |
Hauses konfrontieren: "Hier ist jetzt alles Differenz!" So erfrischend | |
unbescheiden startete Ulrich Mokrusch, das Stadttheater-Dornröschen | |
Bremerhavens wach zu küssen. Aus der 16-jährigen Ära seines | |
Vorgänger-Prinzipalen Peter Grisebach gibt es bis auf den | |
Generalmusikdirektor und die eher klassische Ballett-Sparte keine | |
Übernahmen. 27 Neuproduktionen stehen auf dem Spielplan. Auch drei Viertel | |
der Schauspieler sowie alle Regisseure und Bühnenbildner wurden neu | |
engagiert und erstmals Stellen für Marketing und Theaterpädagogik | |
geschaffen. | |
Das neue Team wirbelte gleich zu Saisonbeginn den Muff der 80er Jahre | |
durcheinander, für den das Haus einst so geliebt wie verachtet wurde. | |
"Alles öffnen, Luft!", gab Mokrusch als Motto an seine 230 Mitarbeiter aus. | |
Seither werden vom Publikum bisher fast unbekannte Angebote begeistert | |
angenommen: Stückeinführungen, Nachgespräche, Probenbesuche, öffentliche | |
Premierenfeiern und lockere Late-Night-Formate. | |
Als künstlerisches Bekenntnis kamen die Eröffnungsproduktionen daher: Die | |
Ödipus-Tragödie, Ilija Trojanows "Die Welt ist groß und Rettung lauert | |
überall" und Benjamin Brittens "Peter Grimes"-Oper waren inhaltlich klare, | |
ästhetisch moderne, politisch Position beziehende, Schauspieler und Sänger | |
als Ensemble feiernde Inszenierungen. Für Bremerhaven eine Sensation. "Aber | |
ich habe nur drei Beschwerdebriefe bekommen", sagt Mokrusch. | |
Mit "Läuft ja super"-Glückwünschen wurde er auf den Neujahrsempfängen der | |
Stadt fast erstickt. Das Publikum liebt sein Stadttheater einfach | |
bedingungslos weiter, fühlt sich nicht abgestoßen, sondern angeregt: Von | |
September bis einschließlich Dezember 2010 wurden in insgesamt 248 | |
Veranstaltungen 64.440 Besucher gezählt, was einer Auslastung im Großen | |
Haus von 83 Prozent, im Kleinen Haus von 93 Prozent entspricht. Das ist | |
eine Steigerung um 10.000 Besucher und damit um 18 Prozent gegenüber dem | |
Vorjahr, der pompösen Abschiedssaison Grisebachs, der heute | |
Generalintendant des schleswig-holsteinischen Landestheaters ist. | |
Besonders stolz ist man in Bremerhaven, dass die Zahl der Kinder und | |
jugendlichen Besucher von 20.848 auf 25.986 stieg. Und so soll es | |
weitergehen - mit 100 Vorstellungen und 10.000 Besuchern pro Saison | |
zusätzlich. Denn es bestehen kaum noch Zweifel: Mokrusch wird den | |
Bremerhavenern zum 100. Geburtstag ihres Theaters in der nächsten Spielzeit | |
ein eigene Kinder- und Jugendtheater-Sparte schenken. | |
Um das Projekt im Kulturzentrum "Pferdestall" zumindest drei Jahre lang zu | |
betreiben, werden 600.000 Euro extern eingeworben. Kein Cent muss aus dem | |
festgezurrten 12,8-Millionen-Etat genommen werden, den die Stadt mit 11,2 | |
Millionen subventioniert - obwohl die Hälfte des Publikums aus dem | |
niedersächsischen Umland anreist. Und der Intendant netzwerkt weiter: keine | |
Feier ohne Mokrusch. Wenn Wirtschaftsverbände, Bildungsträger, Landfrauen | |
oder DRK-Damen laden, wirbt der Intendant für neue Ideen. Mit der | |
Bürgerstiftung hat er so nebenbei Geld für 1.000 Eintrittskarten gesammelt, | |
die jetzt von Bremerhavener Pastoren kostenlos an Menschen verteilt werden, | |
die sich Theater sonst nicht leisten können. | |
Theater für die Stadt machen, heißt aber auch: raus aus dem Theater, rein | |
in die Stadt. Und wenn du schon Gutes tust, rede auch laut drüber. Üppig | |
präsentiert von der örtlichen Tageszeitung hatten Theatermitarbeiter | |
adventskalendermäßig jeden Tag im Dezember ein Leckerli spendiert: Mokrusch | |
spielte Heiligabend Weihnachtslieder zur Gitarre in der Kinderklinik, las | |
auch Sherlock-Holmes-Geschichten vor 70 Knackis der JVA Bremerhaven. | |
Theaterschlosser zogen los, um Spielgeräte in Kindergärten zu reparieren, | |
und der 1. Kapellmeister besuchte mit E-Piano und dem Cavaradossi-Tenor | |
("Tosca") im Gepäck eine MS-kranke Frau für ein Hauskonzert. | |
Grundsätzlich soll auch jede fünfte der regulären 500 Aufführungen bis | |
Saisonende außerhalb des Stammhauses stattgefunden haben. Als Vorgeschmack | |
war jetzt "Die Entdeckung der Langsamkeit" im Schifffahrtsmuseum zu | |
erleben. Ein maritim gewandeter Mime erzählt Sten Nadolnys | |
zivilisationskritischen Seefahrerroman als historische | |
Aussteigergeschichte, allerdings ohne in Dialog mit den Exponaten zu | |
treten. Regisseurin Ulrike Stöck findet keine Art von Adagio-Ästhetik, um | |
Nadolnys 11. Gebot zu übersetzen, das da lautet: Du sollst entschleunigen. | |
Vielversprechender ist da ab Mai Kafkas "Amerika" im Auswandererhaus. Lukas | |
Matthaei porträtiert Migranten Bremerhavens im leer stehenden Nordseehotel | |
und das genreübergreifende Festival "Odyssee : Heimat" soll städtische | |
Räume theatralisieren. Konzerte finden umsonst und draußen als "soziale | |
Intervention" statt. | |
An Bremerhaven reizt Mokrusch der erzwungene Strukturwandel. Nach dem | |
Niedergang als Fischereihafen, dem Werften-Sterben und Abzug der | |
US-Soldaten war die Stadt wirtschaftlich am Ende, lebt heute von | |
Seegüterumschlag, ist Standort für Technologie, Forschung und | |
Städtetourismus. Mit einer Milliarde verschuldet, dafür aber mit | |
touristischen Highlights ausgestattet, von denen Bremen nur träumen kann: | |
die Havenwelten mit Zoo am Meer, "Schifffahrtsmuseum", Auswanderer- und | |
Klimahaus - sowie sportlicherseits Erstliga-Basketball, Zweitliga-Eishockey | |
und Tanzsport-Weltspitze. | |
"Eine Stadt im Aufbruch, sie erfindet sich neu", da erfindet Mokrusch gern | |
mit: seine Art von modernem Stadttheater. Auf das Bremer neugierig schauen: | |
Folgten sie zu Grisebachs Zeiten den Verlockungen von kostümprächtigen | |
Operettenspäßen, Belcanto-Festen und Musical-Prunk, wird jetzt der | |
künstlerische Aufbruchswille und die Marketingpfiffigkeit bewundert. Im | |
Land Bremen ist Schillers "Maria Stuart" in diesem Frühjahr Abiturstoff. In | |
der Stadt Bremen wird das ignoriert. Mokrusch lässt den Klassiker | |
inszenieren, Bremerhavener Oberschüler füllen das Parkett, jetzt rufen auch | |
Bremer Lehrer an, wollen nicht lange fackeln, Theaterausflüge organisieren | |
- und werden junges Publikum mit dem neuen Geist des Hauses infizieren. | |
13 Jan 2011 | |
## AUTOREN | |
Jens Fischer | |
## TAGS | |
Gesellschaftliche Teilhabe | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Benachteiligte Jugendliche abholen: Am Anfang war Theater | |
Mit dem Projekt „Theater – Ja!“ arbeiten Schulen und Theater in Bremerhav… | |
erfolgreich an der gesellschaftlichen Teilhabe | |
Bremerhavener Intendant vor zweiter Spielzeit: Kein ganz normales Stadttheater | |
Bremerhavens Intendant Ulrich Mokrusch geht in die verflixte zweite | |
Spielzeit. Obendrein will auch noch das 100-jährige Bestehen des Hauses | |
gemeistert werden. |