# taz.de -- Ansprüche von Holocaust-Überlebenden: Hinhaltetaktik bei Ghetto-R… | |
> Die Anwältin Simona Reppenhagen kämpft um die Rentenansprüche von Juden, | |
> die im NS-Regime gegen Lohn geschuftet haben. Ein leichter Job ist das | |
> nicht. | |
Bild: Bei keiner Wiedergutmachung wurden den Holocaust-Überlebenden so beharrl… | |
Die 20 Millionen Rentner in Deutschland werden wegen der Geldentwertung | |
ärmer. Für das Jahr 2012 befürchtet das Deutsche Institut für | |
Wirtschaftsforschung daher schmerzliche Kaufkraftverluste. Andere | |
Ruheständler würden sich glücklich schätzen. | |
Holocaust-Überlebende, die in der NS-Diktatur in den Ghettos der Nazis | |
geschuftet haben. Denn bei keiner Wiedergutmachung wurden den Opfern so | |
beharrlich Zahlungen vorbehalten wie bei den "Ghetto-Renten". Diese sollten | |
Menschen zugute kommen, die "aus eigenem Willensentschluss" und "gegen | |
Entgelt" gearbeitet haben. Kein Gesetz in der Bundesrepublik aber hat eine | |
so hohe Ablehnungsquote: Seitdem das Ghetto-Renten-Gesetz rückwirkend 1997 | |
in Kraft getreten ist, wurden allein bis 2007 rund 95 Prozent der 70.000 | |
Anträge abgelehnt. | |
Die Berliner Anwältin Simona Reppenhagen vertritt mehr als 2.000 | |
Holocaust-Überlebende. Sie sagt: "Die Deutsche Rentenversicherung und viele | |
Gerichte haben sich ignorant verhalten." | |
Dabei gab es noch im Juni 2009 Hoffnung. In Revisionsentscheidungen des | |
Bundessozialgerichtes wurde geregelt, dass die Begriffe, die für die | |
Bewilligung einer Rente maßgeblich sind, künftig weiter ausgelegt werden | |
sollten. Es handelte sich um die Formulierungen "Entgelt" und "aus eigenem | |
Willensentschluss". Die Rentenversicherungsträger und Gerichte sollten ihre | |
eng gefasste Auslegungspraxis überprüfen. Stattdessen kam es kurz nach den | |
Gerichtsentscheidungen in Nordrhein-Westfalen zu einer zweifelhaften | |
Zusammenkunft. | |
Der damalige Vizepräsident des Landessozialgerichts, Martin Löns, traf sich | |
mit der Geschäftsführung und fünf weiteren Mitarbeitern der Beklagten, der | |
Deutschen Rentenversicherung Rheinland. Anwesend waren eine Richterin des | |
Sozialgerichts Düsseldorf und ein Vertreter der Aufsichtsbehörde NRW, dem | |
Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales. Thema der Zusammenkunft: | |
die Ghetto-Rente. | |
In dem Protokoll des Treffens, das der taz vorliegt, äußerte die | |
DRV-Rheinland den Wunsch, "dass keine neuen Terminierungen seitens der | |
Gerichte in den Fällen erfolgen, die von der Rechtsprechung des BSG | |
betroffen sind. Wenn möglich sollen auch bereits terminierte Sachen | |
aufgehoben und mit einem entsprechenden Hinweis zur Prüfung auf ein | |
Anerkenntnis an die DRV gesandt werden." Die DRV bat also darum, keine | |
Urteile von Seiten der Gerichte ergehen zu lassen. Ferner wolle die DRV | |
"einen großzügigen Prüfmaßstab ansetzen". Nur, war darauf Verlass? Bisher | |
nicht. | |
Fachleute rechnen mit Kosten von zwei Milliarden Euro für die beklagte | |
Deutsche Rentenversicherung, wenn alle 70.000 Anträge bewilligt würden. War | |
es also Zweck des ominösen Treffens, Gelder der Rentenversicherung zu | |
sparen und die Gerichte zu entlasten? Die Anwälte der Kläger waren nicht | |
anwesend und wurden erst später über den Inhalt informiert. Dabei müssen | |
die Klägervertreter einer Aussetzung von Verfahren zustimmen. | |
Richter Löns sagt zu dem Treffen: "Es ging nur um das organisatorische | |
Anliegen, schnelle Anerkenntnisse abzugeben, damit das Nadelöhr der | |
deutschen Rentenversicherung nach den Entscheidungen des | |
Bundessozialgerichts nicht verstopft wird." Warum ein solches Treffen ohne | |
Klägerbevollmächtigte und zuständige Berichterstatter stattfindet? | |
Vertreter des Justizministeriums hätten nicht an einem Gespräch | |
teilgenommen und "ein solches Gespräch auch nicht veranlasst", sagt der | |
Sprecher des Justizministeriums in NRW, Ulrich Hermanski, am 16. Dezember | |
2010. | |
Der Berliner Anwältin Simona Reppenhagen erhebt schwere Vorwürfe: "Die | |
Besprechung lässt ein Zusammenwirken von Exekutive und Judikative erkennen, | |
die der Gewaltenteilung offenkundig widerspricht. Und woher habe ich die | |
Kontrolle über das, was dort tatsächlich geredet wurde?" Die Rechtsanwältin | |
glaubt, "die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit des Gerichts ist durch | |
diese Zusammenkunft infrage gestellt". | |
Ein Blick in die Vergangenheit erhärtet Indizien, die die | |
Bewilligungspraxis bei Ghetto-Renten fragwürdig erscheinen lässt. Dr. | |
Stephan Lehnstaedt ist Mitarbeiter des Historischen Instituts in Warschau | |
und in den Verfahren als Gutachter tätig. Er hat mehr als 60 Urteile aus | |
NRW analysiert und sagt: "Dort hatte sich bis Juni 2009 eine Praxis | |
etabliert, in der Teile der Sozialgerichtsbarkeit routinemäßig die | |
ablehnenden Bescheide der Rentenversicherung bestätigten, ohne sie zu | |
überprüfen." So hätten Justiz und Verwaltung jeweils auf die Ergebnisse des | |
anderen verwiesen. Abweichende Auslegungen von Begriffen hätten fast | |
automatisch zu einer Ablehnung von Klagen geführt. | |
Mitte Juni 2009 begann die DRV-Rheinland, fast 26.000 abgelehnte Anträge | |
neu zu überprüfen. Wieder verschickt die Behörde Fragebögen und fragt darin | |
bereits Beantwortetes ab. In dem Fragebogen-Paket heißt es: Sie müssen | |
keinen Antrag stellen. Wenn es aber keine Rückmeldung der Betroffenen gab, | |
wurden die Anträge zurückgestellt. Das traf in 2.900 Fällen zu. Die | |
DRV-Rheinland kann darin nicht erkennen, "dass die Antragsteller durch das | |
Anschreiben und die Kurzinformation irritiert worden sein könnten". | |
Bereits die Version der Fragebögen, die vor den Urteilen des | |
Bundessozialgerichts 2009 galt und an die Antragsteller verschickt wurde, | |
sei "als Instrument zur Sachverhaltsaufklärung ungeeignet und erzeugte | |
sogar falsche Angaben", so die sachverständige Sozialwissenschaftlerin | |
Kristin Platt vom Institut für Diaspora- und Genozidforschung der | |
Ruhr-Universität Bochum. Auch andere Ermittlungsinstrumente wirken | |
unangemessen. Als Entscheidungsgrundlage dienten Wikipedia und acht | |
wissenschaftliche Bücher, davon vier Überblickswerke, sowie die Datenbank | |
des Karl-Ernst-Osthaus-Museums. | |
In dieser sind lediglich 400 osteuropäische Ghettos auflistet. Das US | |
Holocaust Memorial Museum zählt zurzeit hingegen 1.150 Ghettos in | |
Osteuropa. Auch das Angebot einer kostenlosen Amtshilfe durch die nationale | |
israelische Versicherungsanstalt ließen die deutschen Kollegen schlichtweg | |
ruhen; genauso wie das Angebot der Jewish Claims Conference, ihre Experten | |
zu Rate zu ziehen. | |
Ein Richter wollte sich nicht mehr allein auf Wikipedia und Fragebögen | |
verlassen und begann zu ermitteln: Jan Robert von Renesse. Er war seit 2006 | |
in NRW zuständig und holte rund 500 Stellungnahmen zur Lebens- und | |
Arbeitssituation in verschiedenen Ghettos ein, ließ in osteuropäischen | |
Archiven und den Beständen von Jad Vaschem, der Holocaust-Gedenkstätte in | |
Jerusalem, forschen und begann damit, Überlebende in Israel anzuhören. | |
Seine Praxis stieß nicht auf Zustimmung. | |
Ende 2008 verfügte Ulrich Freudenberg, der damalige Vorsitzende des 8. | |
Senats am Landessozialgericht NRW, Jan Robert von Renesses | |
Beweisanordnungen aufzuheben. Ende März 2010 wurden von Renesse die | |
Zuständigkeiten für die Ghetto-Rente-Verfahren entzogen. Kurz zuvor hatte | |
er noch rund 30 Kostenbeschlüsse erlassen, in denen er die Kosten der | |
Amtsermittlungen der DRV-Rheinland in Rechnung stellte. Im April 2010 | |
wurden diese Kostenbeschlüsse wieder aufgehoben. Verantwortlich dafür: | |
Richter Freudenberg. | |
Anwältin Reppenhagen beanstandet: "In Nordrhein-Westfalen ist das | |
Landessozialgericht aus den Fugen geraten. Dieses Gericht hat vollkommen | |
den Realitätsbezug verloren." Im Juni erhob sie mehrere | |
Verfassungsbeschwerden. "Die Aufhebung dieser Kostenbeschlüsse verletzt das | |
Grundrecht auf einen gesetzlichen Richter, das Grundrecht auf ein | |
rechtsstaatliches Verfahren und stellt außerdem eine Verletzung des | |
Willkürverbots und der Menschenwürde dar." Ihre Beschwerden wurden nicht | |
zur Entscheidung angenommen. | |
Für die Kläger machen sich außer Simona Reppenhagen auch andere Anwälte | |
stark. Anfang 2010 erstattete der Berliner Rentenberater Wolfgang Johannsen | |
Dienstaufsichtsbeschwerde gegen Vizepräsident Löns, unter anderem wegen der | |
Zusammenkunft mit der DRV-Rheinland. Dienstaufsichtsrechtliche Maßnahmen | |
gegen den Richter wurden nicht ergriffen. Ein weiterer Anwalt von | |
Klägerinnen hatte die Praxis des damaligen Vorsitzenden des 8. Senats, | |
Richter Freudenberg, in einem Schriftsatz scharf kritisiert. Für den Anwalt | |
stellt dies "einen in der Rechtsgeschichte der Bundesrepublik einmaligen | |
Vorgang dar, der sich noch dazu im Kern gegen jüdische Verfolgte und ihre | |
Menschenrechte auf ein faires Verfahren richtet". Daraufhin erstattete Löns | |
Strafanzeige. Der Rechtsanwalt erstattete dann seinerseits Strafanzeige | |
gegen Löns und Freudenberg. Beide Verfahren sind schwebend. | |
Ende 2010 waren ein Viertel der mittlerweile 57.000 Anträge bewilligt. Als | |
Kostenfaktor wurden 300 Millionen Euro für 2010 und 200 Millionen Euro für | |
2011 angesetzt. Für Simona Reppenhagen steht fest: "Die juristische | |
Umsetzung der Verantwortung hat bisher versagt." | |
24 Jan 2011 | |
## AUTOREN | |
Nina Schulz | |
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