# taz.de -- Turbulente Sozialsatiren des Shibuya Minoru: Im Alltag lauern die K… | |
> Der japanische Regisseur Shibuya Minoru war ein gnadenloser Realist. Sein | |
> Werk - meist Gesellschaftsdramen mit tragischen Untertönen - wird im | |
> Forum vorgestellt. | |
Bild: Figuren mit extremen Charaktereigenschaften: Szene aus "Gendaijin" von Sh… | |
Maßhalten ist nicht die Sache des kleinen Angestellten Atsumi Kozi. Zu gut | |
schmeckt ihm der Sake. Wie auch seinem besten Freund. Und seinem Sohn. | |
Allnächtlichen, hochnotpeinlichen Totalausfällen zum Trotz landen die | |
Männer immer wieder in Kneipen und Nachtclubs, wo sodann der Reisschnaps in | |
Strömen fließt und alles von vorne losgeht. Bis sich eines Abends ein | |
verhängnisvoller Unfall ereignet und Atsumi beginnt, seinen Lebenswandel zu | |
überdenken. Doch sich zu ändern fällt schwer, wenn die Gesellschaft, in der | |
man lebt, von Leichtsinn und Vergnügungssucht geprägt ist. | |
"Yopparai tengoku" (Drunkards Paradise), die turbulente Sozialsatire mit | |
tragischen Untertönen, von der hier die Rede ist, entstand 1962 unter der | |
Regie von Shibuya Minoru. Sie ist einer von acht Filmen, mit denen das | |
Forum in bewährter Zusammenarbeit mit dem Festival Tokyo FilmEx die schöne | |
Tradition fortsetzt, das Werk von im Westen eher unbekannten japanischen | |
Regisseuren vorzustellen. | |
Shibuya Minoru (1907-1980), der 1930 zur Produktionsfirma Shochiku kam, | |
begann seine Laufbahn als Assistent von Naruse Mikio und Gosho Heinosuke. | |
Zwischen 1937 und 1965 drehte er über 40 Filme, vorwiegend Shomingeki, in | |
der Gegenwart angesiedelte Gesellschaftsdramen, in deren Mittelpunkt | |
normale Leute und ihre Alltagssorgen stehen. | |
Weder normal noch alltäglich wollen einem allerdings so manches Mal die | |
Handlungsverläufe von Shibuyas Filme vorkommen. Wilde Wendungen, | |
unvorhergesehene Zuspitzungen, melodramatische Gefühlsausbrüche, die alles | |
andere zum Stillstand bringen, und überdeutlich mit moralischen Ermahnungen | |
winkende Zaunpfähle machen seine Shomingeki zu eigenwillig unangepassten | |
Vertretern ihrer Art. Ihre spezielle Energie und Kraft beziehen sie aus dem | |
scharfen Kontrast zwischen lebendiger Inszenierungsweise und ungehemmter | |
Fabulierlust und einem genauen Realismus, mit dem Shibuya die | |
gesellschaftliche Situation, in der seine Geschichten angesiedelt sind, | |
abbildet. | |
Zum Beispiel im 1957 gedrehten "Seigiha" (Righteousness), dessen | |
umfangreiches, im Arme-Leute-Milieu angesiedeltes Ensemble von der Figur | |
der Schwarzmarkthändlerin Okyo zusammengehalten wird. Okyos Sohn sieht sich | |
eines Tages vor die Frage gestellt, ob die Loyalität zu seinem Arbeitgeber | |
schwerer wiegt als die Verpflichtung gegenüber dem eigenen Gewissen. Ein | |
Konflikt, der Shibuya als Ausgangspunkt dient, um von Doppelmoral und | |
Gruppenzwang, von gerechtem Zorn und ungerechten Vorwürfen, von | |
Hilfsbereitschaft und Zusammenhalt zu erzählen. Darüber hinaus hat er noch | |
Zeit für den Besuch eines Stripclubs auf der Ginza und die Aussöhnung eines | |
durchgebrannten Liebespaares mit einem gestrengen Patriarchen. | |
Dass in guter Absicht begangene Regelverstöße mitunter heftige Katastrophen | |
nach sich ziehen können, das führt "Gendaijin" (Modern People) aus dem Jahr | |
1952 geradezu exemplarisch vor. Ein aus finanzieller Not korrupt gewordener | |
Ministerialbeamter, seine naive, von einer glücklichen Familie träumende | |
Tochter und ein ehrgeiziger Untergebener mit romantischen Sehnsüchten | |
verfangen sich in den Machenschaften der Tokioter Baumafia. Geschickt | |
verflicht Shibuya die unterschiedlichen Motivationen seiner Figuren zu | |
einem wuchtigen Melodram und lässt das Geschehen dann schicksalhaft in | |
einen tragödischen Exzess münden. "Gendaijin" ist auch ein gnadenloser | |
Kommentar zu modernen Zeiten. | |
Shibuya Minorus Filme wollen vor dem Hintergrund der fundamentalen | |
Umwälzungen gesehen werden, mit denen Japan infolge der Kriegsniederlage | |
zurechtkommen musste. Sie stehen im Kontext eines Kinos, das am | |
gesellschaftlichen Diskurs teilnimmt, indem es die Möglichkeiten | |
moralischer Lebensführung in Zeiten der Veränderung von Sitten und | |
Gebräuchen diskutiert. So gesehen erscheinen dann weder die extremen | |
charakterlichen Eigenheiten der Figuren noch die Abgründigkeit ihrer | |
Handlungsweisen an den Haaren herbeigezogen, verdient auch der didaktische | |
Impetus der Filme mildernde Umstände. | |
Shibuyas letzter Film für Shochiku, "Daikon to ninjin" (The Radish and the | |
Carrot, 1964), basiert übrigens auf einer von Ozu Yasujiro geschriebenen | |
Geschichte. Ozu-Stammschauspieler Chishu Ryu spielt darin den Vater von | |
vier erwachsenen Töchtern, der eines Tages verschwindet. In "Yopparai | |
tengoku" gibt Chishu den Saufbold. In "Kojin kojitsu" (A Good Man, A Good | |
Day, 1961) einen exzentrischen Uniprofessor, der mit dem Auserwählten | |
seiner Tochter nicht zufrieden ist. - Chishu Ryu, in dessen Augen so | |
erschreckend viel Seele zum Ausdruck kommt. Er könnte als | |
Entscheidungshilfe dienen. Schließlich kann man nicht immer alles sehen. | |
Leider. | |
"Daikon to ninjin", 18. 2., 14 Uhr, Delphi; 19. 2., 22 Uhr, CineStar 8; | |
"Gendaijin", 12. 2., 14 Uhr, Delphi; 13. 2., 22 Uhr, CineStar 8; "Kojin | |
kojitsu", 16. 2., 14 Uhr, Delphi; 17. 2., 22 Uhr, CineStar 8 | |
10 Feb 2011 | |
## AUTOREN | |
Alexandra Seitz | |
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