Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Lohngerechtigkeit 2011: Boom im Wolkenkuckucksheim
> Die Wirtschaft wächst rasant. Aus Sicht der Gewerkschaften ein Grund für
> Tariferhöhungen. Doch die Bruttoverdienste sanken in den letzten zehn
> Jahren.
Bild: Flasche voll? Die Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten will 5 bis 6 P…
BERLIN taz | 3,6 Prozent Wirtschaftswachstum im vergangenen Jahr, 2,3
Prozent für 2011, lautet die Prognose der Bundesregierung. Da wollen auch
Gewerkschaften und Arbeitnehmer nicht zurückstecken: "Alle Indikatoren
sprechen für eine schöne, knackige Tarifrunde", ist sich Michael Denecke,
stellvertretender Sprecher der Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie,
Energie (IG BCE), sicher. Am Mittwoch ist der Auftakt der
Tarifverhandlungen.
Als 2009 die Konjunktur um 4,7 Prozent abstürzte, verzichteten die
Beschäftigten der chemischen Industrie auf eine prozentuale Lohnsteigerung.
Stattdessen wurde der abgelaufene Tarifvertrag um elf Monate verlängert,
und es gab eine Einmalzahlung zwischen 500 und 700 Euro. Doch jetzt hat
sich die Stimmung gedreht: "Der Aufschwung hat in der chemischen Industrie
in der Breite eingesetzt, die Beschäftigten erwarten mehr Geld in der
Tasche."
Denecke steht mit der Aussage nicht allein da. Alle Gewerkschaften, die in
diesem Jahr Tarifverhandlungen beginnen, fordern deutliche
Entgelterhöhungen. Zwischen 5 und 7 Prozent sollen die Löhne und Gehälter
steigen. Bei den Arbeitgebern stößt das nicht auf Gegenliebe. Vorbei sind
die Zeiten der Wirtschaftskrise, in der mit Tarifzurückhaltung und
Beschäftigungssicherung durch Kurzarbeit an einem Strang gezogen wurde: Die
Tarifforderungen kämen "aus dem Wolkenkuckucksheim" und seien "vollkommen
illusionär", beschied Dieter Hundt, Präsident der Bundesvereinigung der
Arbeitgeberverbände (BDA). Zudem: "Weder die wirtschaftliche Prognose
dieses Jahres noch die mittelfristigen Perspektiven, geschweige denn die
Entwicklung der letzten zwei Jahre zusammengenommen rechtfertigen derartige
Lohnerhöhungen."
Doch selbst Bundeswirtschaftsminister Rainer Brüderle (FDP) schwärmt vom
deutschen Rekordwachstum und folgert: "Wenn die Wirtschaft boomt, sind auch
kräftige Lohnerhöhungen möglich." Auch Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU)
beurteilt die Lage ähnlich. Zugleich geht die Regierung in ihrem
Jahreswirtschaftsbericht 2011 von eher bescheidenen Tariflohnsteigerungen
um 2,1 Prozent aus. Damit käme allerdings gerade einmal minimal mehr bei
den Arbeitnehmern an, als durch die Inflation wieder aufgebraucht wird.
Zwischen 1,5 und 1,8 Prozent Preissteigerung sagen Wirtschaftsexperten
durchschnittlich für das laufende Jahr voraus. Allein im Januar zogen die
Preise jedoch bereits um 2 Prozent an. Und auch für die
Krankenkassenbeiträge müssen Arbeitnehmer seit Anfang des Jahres tiefer in
die Tasche greifen.
"Es gibt mehr als gute Gründe, zu kräftigen Reallohnsteigerungen zu kommen.
Das wäre verteilungspolitisch und konjunkturpolitisch äußerst notwendig",
betont Reinhard Bispinck, Leiter des Tarifarchivs des Wirtschafts- und
Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) in der Hans-Böckler-Stiftung. Auch
er will den privaten Konsum stärken. Zum einen, weil sich das
Wirtschaftswachstum 2011 nicht zuletzt durch den deutlich langsameren
Anstieg der Exporte in die Schwellenländer oder den Euroraum abschwächen
werde. "Zum anderen werden auch die Investitionsausgaben der Unternehmen,
ein wichtiger Motor für die Konjunktur, 2011 nicht mehr so stark steigen",
sagt Bispinck.
Gestützt werden die Forderungen nach deutlichen Reallohnsteigerungen durch
den Tarifpolitischen Jahresbericht des WSI. Demnach sind die
Bruttoverdienste der Beschäftigten nach Abzug der Inflation zwischen 2000
und 2010 um 4 Prozent gesunken. Nur in wenigen Branchen, etwa in der
Chemie- und der Metallindustrie, wurde der gesamtwirtschaftliche
Verteilungsspielraum bei den Tariflöhnen ausgeschöpft. Im großen Trend
steigen also die Unternehmensgewinne und schrumpfen die Lohnanteile. Und
das nicht zu knapp: Zwischen 2000 und 2010 legten die Unternehmens- und
Vermögenseinkommen fast dreimal so stark zu wie die Arbeitnehmerentgelte.
In der EU landet Deutschland beim Anstieg der Bruttoverdienste sogar auf
dem letzten Platz: Während sich die Verdienste von 2000 bis 2010 im
europäischen Durchschnitt um 35,5 Prozent steigerten, waren es in
Deutschland nur 21,8 Prozent.
Allerding stehen die Tarifparteien vor höchst unterschiedlichen Szenarien.
Am leichtesten dürfte es die IG BCE mit ihrer Lohnforderung haben. Denn der
Verband der Chemischen Industrie (VCI) sagt der Branche 11 Prozent Wachstum
im Vergleich zum Krisenjahr 2009 und eine Umsatzsteigerung von 18 Prozent
voraus.
Im öffentlichen Dienst der Länder steht hingegen wohl die zäheste
Tarifrunde des Jahres an. Die Gewerkschaften, darunter Ver.di, die GEW und
der Deutsche Beamtenbund, fordern für die rund 600.000 Angestellten
insgesamt 5 Prozent mehr Lohn und eine Übernahme des Ergebnisses auf die
mehr als eine Million Beamten. Erste Warnstreiks von Lehrern haben bereits
stattgefunden.
Ver.di argumentiert, dass die Steuereinnahmen 2010 gegenüber 2009 um 1,4
Prozent unerwartet stark zulegten. Laut der jüngsten Steuerschätzung
dürften die Länder bis 2012 zudem Steuermehreinnahmen in Höhe von 14,2
Milliarden Euro erwarten. Für den Verhandlungsführer auf Länderseite,
Niedersachsens Finanzminister Hartmut Möllring (CDU), sind 5 Prozent mehr
Lohn jedoch schlichtweg "unrealistisch". Die Steuereinnahmen lägen immer
noch unter denen von 2008, die Länder stünden mit leeren Taschen da.
Tatsächlich fiel das Defizit 2010 zwar um 13 Milliarden Euro kleiner aus
als erwartet. Es liegt aber immer noch bei minus 21,5 Milliarden Euro.
"Zudem verbietet die Schuldenbremse im Grundgesetz den Ländern spätestens
ab 2020, neue Schulden zu machen", sagt Möllring.
An einem Punkt jedoch könnten sich Länder und Gewerkschaften nach Jahren
endlich treffen: "Es ist wahrscheinlich, dass wir in Sachen Eingruppierung
zu einer Einigung kommen", sagt Ver.di-Verhandlungsführer Achim Meerkamp
vor Beginn der Tarifverhandlungen. Dabei geht es um die Bewertung von
Tätigkeiten und darum, die Aufstiegsmöglichkeiten zwischen neuen und alten
Beschäftigten anzugleichen. "Die Länder wissen, dass sie ohne Angleichung
Probleme bekommen, die Abwanderung von Beschäftigten aus dem öffentlichen
Dienst in die Privatwirtschaft zu verhindern", so Meerkamp.
In der Ernährungsindustrie steckt man schon mitten in den Verhandlungen -
inklusive erster Warnstreiks in der Brauereiwirtschaft. "Wir werden das
ganze Jahr über rund 3.000 Tarifverträge neu aushandeln", erklärt
Franz-Josef Möllenberg, Vorsitzender der Gewerkschaft
Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG). Sorge machen Möllenberg vor allem die
Leiharbeit und die Niedriglöhne. "In manchen Betrieben wie der
Geflügelschlachterei sind mittlerweile mehr als die Hälfte der
Beschäftigten Leiharbeiter, das breitet sich aus wie ein Krebsgeschwür."
Gegensteuern sei kaum möglich, auch nicht gegen Löhne von 4 oder 5 Euro,
die an rumänische Arbeiter in Schlachthäusern gezahlt würden. "Da müssen
wir für jeden Betrieb einzeln in den Häuserkampf gehen, das ist nicht zu
schaffen. Die Politik muss endlich tätig werden, Mindestlöhne einführen und
die Leiharbeit einschränken."
16 Feb 2011
## AUTOREN
Eva Völpel
## ARTIKEL ZUM THEMA
Steuerschätzung 2011: Das Extrageld ist schon weg
135 Milliarden Euro mehr Steuern als bisher erwartet könnte der Staat bis
2014 einnehmen, haben Experten errechnet. Finanzminister Schäuble will
weitersparen.
Debatte Arbeitswelt: Moderne Tagelöhner
Keine andere Branche wächst derzeit so rasant wie die Leiharbeit. Der
Abwärtstrend bei Löhnen und Arbeitsstandards wird auf diesem Weg
beschleunigt.
Warnstreik im öffentlichen Dienst: Gegen "Lehrkräfte zweiter Klasse"
Im Saarland und in Hessen streiken Arbeitnehmer für mehr Entgelt. Die
Arbeitgeber verweisen auf klamme Kassen, Ver.di-Chef Bsirske sagt: Dann
schickt mehr Steuerprüfer.
Tarifkompromiss beim Autobauer: VW-Mitarbeiter erhalten mehr Lohn
Erfolgreiche Nachtschicht: 100.000 Mitarbeiter von Volkswagen bekommen ab
Mai 3,2 Prozent mehr Geld. Außerdem sieht der Haustarifvertrag noch zwei
Einmalzahlungen vor.
Bundes-Rahmen-Tarifvertrag für Bahn und Private: Lokführer drohen mit Streiks
Im Tarifkonflikt zwischen der Lokführergewerkschaft GDL und den
Bahnunternehmen sind die Fronten verhärtet. Die Eisenbahner warnen die Bahn
vor "Spielchen".
Arbeitskampf im Netz: Mit Lady Gaga für fairen Lohn
Mit dem Internetportal labournet.tv hat die Gewerkschaftslinke jetzt ein
Onlinearchiv aufgebaut. Es sammelt Filme über Arbeitskampf und
Arbeitsbedingungen in aller Welt.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.