# taz.de -- Mutter und Buchautorin über Magersucht: "Den Verfall sieht man am … | |
> Marie und Anna waren 14, als sie magersüchtig wurden. Ihre Mutter | |
> Caroline Wendt musste miterleben, wie die Kinder immer dürrer wurden. Sie | |
> hat darüber ein Buch geschrieben. | |
Bild: Für eine Mutter fast unerträglich: Das eigene Kind hungert sich krank. | |
taz: Frau Wendt, Sie haben ein sehr persönliches Buch über die Magersucht | |
Ihrer Töchter geschrieben. An welchem Punkt dachten Sie: Ich muss das | |
aufschreiben? | |
Caroline Wendt: Eigentlich haben mich meine Töchter Marie und Anna darauf | |
gebracht. Ich habe in der Zeit der akuten Erkrankung der Kinder, in den | |
ersten anderthalb Jahren, Tagebuch geschrieben. Um mich zu entlasten und | |
mehr Klarheit zu gewinnen. Und die Mädchen haben dann gesagt: Da musst du | |
was draus machen, Mama. Aber der Hauptantrieb war eigentlich, dass ich | |
unsere Erfahrungen an andere Eltern weitergeben will. Vor allen Dingen an | |
die Mütter. | |
Warum an die Mütter? | |
Ja, die Mütter und das Schuldthema, das war schon ein Antrieb. Es gibt ja | |
eine Menge Bücher über Magersucht, von Ärzten, Psychologen. Das habe ich | |
mir alles besorgt, als die erste Tochter, Marie, in die Krankheit gekommen | |
ist. Viele von diesen Autoren nehmen die Eltern in Haftung, das ist | |
ziemlich verbreitet. Da liest man ständig von den diversen Fehlern der | |
Eltern. Das fand ich entmutigend. | |
Was möchten Sie Ihren Lesern, also den Müttern, signalisieren? | |
Ich sage: Die Magersucht eures Kindes ist zwar eure Sache, aber sie ist | |
nicht euer Fehler. Magersucht ist in den Familien angelegt, das weiß man | |
heute. Aber die Krankheit wird natürlich auch ausgelöst durch Konflikte, so | |
wie eine Depression auch ausgelöst wird. Als Mutter macht man sich so | |
wahnsinnige Vorwürfe, wie so etwas passieren konnte. | |
Warum ist das so? | |
Es ist einfach schrecklich, das eigene Kind beim Verhungern zu beobachten. | |
Ein Albtraum für eine Mutter. Hinzu kommt, dass Schuldvorwürfe noch von der | |
tiefenpsychologisch ausgerichteten Psychotherapie … nun ja, ungut | |
unterstützt werden. | |
In Ihrem Buch schreiben Sie von der "Kontrollmami", die eigentlich helfen | |
möchte, aber mit ihrem ständigen Eingreifen alles noch schlimmer macht für | |
das Kind. | |
Man muss unterscheiden zwischen der Mutter, wie sie vor der Erkrankung war, | |
und der Frau, wie sie sich während der Erkrankung verhält. Man hat von der | |
angespannten Mutter eines magersüchtigen Kindes zurückgeschlossen auf eine | |
generelle "Kontrollmami". Das ist auch eines der Klischees über die Genese | |
der Magersucht. Wie auch die "Festungsfamilie", die keine Gefühle zulassen | |
kann und in der diese Krankheit bevorzugt ausbricht. Das ist alles | |
widerlegt inzwischen, aber es geistert halt so in den Köpfen herum. Dann | |
gibt es noch die überfürsorgliche Mami, die immer hinter dem Kind her ist, | |
und das Kind muss sich quasi wehren, indem es eine psychische Erkrankung | |
bekommt. Wenn man das mal richtig zu Ende denkt, merkt man, dass das für | |
die Betroffenen selbst eine blöde Interpretation ist - als würden sie diese | |
Krankheit bewusst oder unbewusst extra bekommen, um sich an den Eltern zu | |
rächen. | |
Waren Sie überfürsorglich? Im Buch beschreiben Sie, wie Sie mit Ihren | |
Töchtern am Tisch sitzen und kommentieren, was und wie viel sie essen. | |
Ich habe eine ganze Weile gebraucht, damit aufzuhören. Die | |
Psychotherapeuten haben mir das auch geraten. Ist ja auch richtig, aber es | |
ist mir wahnsinnig schwer gefallen. In unserer Familientherapie ging es | |
unter anderem darum, dass wir alle eine Störung haben, dass sich bei uns | |
Gefühle nur übers Essen äußern würden. Das war so ein Schmarrn! Ich habe | |
gesagt: Nein, das stimmt nicht! Und dann sagen die: Ja, Frau Wendt, wenn | |
Sie sich darüber so sehr aufregen, dann ist wohl doch was dran. Sehen Sie, | |
was ich meine? Das ist doch perfide. | |
Haben Sie die Magersucht Ihrer Töchter als Provokation empfunden? | |
Hungern ist Provokation. Hungern ist Macht. Ich habe mich oft von der | |
Magersucht provozieren lassen und mich sehr über mich selbst geärgert, über | |
die Aggression, den vielen Streit, den der Hunger in unserer Familie | |
ausgelöst hat. Bis der behandelnde Klinikarzt mich entlastet hat. Frau | |
Wendt, hat er gesagt, Gandhi hat mit einem Hungerstreik ein ganzes | |
Weltreich ins Wanken gebracht, die RAF-Terroristen haben mit dem Hungern | |
den Staat provoziert. Hungern, das hat eine solche Wirkkraft, da bleibt | |
keiner cool. Aber es ist, das muss man erst lernen, nicht so gemeint von | |
den Betroffenen, die ja am meisten unter dieser Störung leiden. | |
Wie kann man sich das vorstellen: Gehen die Kinder in eine Art Hungerland? | |
Ja, es ist eine Welt für sich. Aber man begibt sich da nicht mehr oder | |
weniger freiwillig hinein, diese Krankheit kriegt einen, sobald man ihr den | |
kleinen Finger gibt. Das konnte ich bei unseren Töchtern sehen: Marie hatte | |
als Zwillingsschwester eine Identitätskrise und fing an zu diäten. Sie | |
wollte anders sein als ihre Schwester: dünner. Wenn man dann diese Anlage | |
in sich trägt, besteht höchste Gefahr. Man kann sich irgendwann nicht mehr | |
gegen den Sog der Krankheit wehren. | |
Welche waren für Sie die beunruhigendsten Symptome? | |
Jeder Tag, den sie mehr hungern, ist ein Unglückstag. Und das weiß man als | |
Mutter und muss trotzdem versuchen, ruhig zu bleiben. Die Auswirkungen sind | |
ja enorm. Bei den Mädchen bleibt die Regel aus, sie frieren die ganze Zeit, | |
weil der Stoffwechsel unten ist, ihre schöne Haut wird ganz trocken, die | |
Kopfhaare gehen aus, während sich am Körper ein Flaum bildet. Und diesem | |
Verfall sieht man jeden Tag am Küchentisch zu, das ist die totale | |
Bedrohung. | |
Es fällt auf, dass im Buch Ihr Mann zurückgenommen wirkt, eher leise | |
verzweifelt. Was war da los? | |
Er hat sich nicht so wie ich in diesen Kampf begeben ums Essen. Da war er | |
eigentlich gescheiter als ich. Bis heute kann er nicht verstehen, wie man | |
so etwas Bescheuertes tun kann, zu hungern. Warum man sich selbst so | |
schädigt, wenn man doch so wunderbar ist wie seine Töchter. Die Marie, | |
okay, das konnte er noch verstehen, sie hatte ein Identitätsproblem. Sie | |
wollte anders sein als die Schwester. Das hat jeder verstanden, diesen | |
psychologischen Hintergrund. Aber warum kriegt Anna das auch noch, ohne ein | |
Problem zu haben? Nur weil sie das Beispiel der Schwester hat und sie dann | |
plötzlich auch nicht dicker sein will als die andere. Da kam er überhaupt | |
nicht mehr mit. | |
Marie und Anna sind mit 14 Jahren in die Magersucht gerutscht und kamen | |
nach etwa 18 Monaten wieder heraus. Sie sind jetzt 18. Sind die Mädchen | |
geheilt? | |
Ich habe immer gedacht, Heilung ist möglich, ich wollte ja das Buch auch so | |
abschließen. Und dann kam Maries Rückfall, und ich musste noch ein weiteres | |
Kapitel über Rückfälle schreiben. Noch immer können die Zwillinge nicht gut | |
zusammen am Tisch sitzen, das bleibt schwierig. So was dauert halt. Und das | |
muss man eben auch den anderen Eltern sagen. Man muss da einfach Geduld | |
haben und sehr viel Zuversicht. | |
Haben Ihnen selbst solche Ermutigungen in der Zeit der akuten Erkrankung | |
geholfen? Woraus haben Sie Zuversicht geschöpft? | |
Ich muss zugeben, dass ich in der Zeit der akuten Gefahr manchmal nur noch | |
verzweifelt war. Kurz vor einer Depression. Aber ich habe wohl auch eine | |
innere Stärke vorher schon gehabt, ein inneres Haus, in das ich gehen kann. | |
Außerdem musste ich ja auch für die anderen in der Familie funktionieren, | |
wir haben ja noch den Jakob, unseren Nachzügler. Und ich habe meinen Mann, | |
den liebe ich ja auch. Irgendwann denkt man, man lebt ja nicht nur für die | |
Töchter. Ich hatte dann schon so einen Punkt, wo ich mich frei gemacht | |
habe, wo ich gesagt habe: Wenn ich jetzt vor die Hunde gehe vor Sorgen, | |
dann bricht hier alles zusammen. | |
Hat die Krankheit irgendetwas Sinnhaftes gehabt? | |
Ich weigere mich zu sagen: Es hatte alles einen Sinn, und jetzt können wir | |
besser miteinander reden und so weiter. Nein, ich glaube, wir hätten lieber | |
auf diese Erfahrung verzichtet. Dafür ist diese Krankheit einfach zu | |
gefährlich. | |
4 Mar 2011 | |
## AUTOREN | |
Anja Maier | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Fashion Week: Bitte mit Sahne | |
Die Grünen fordern einen Gesundheits-TÜV für Models nach dem Vorbild von | |
Mailand. Die Branche meint: Nicht nötig, in Deutschland gebe es gar keine | |
Magermodels | |
Neue Ski-Bindung hebelt Gewichtsregel aus: Magersucht könnte sich wieder lohnen | |
Der technische Fortschritt fördert Skispringer-Magersucht? Vielleicht. Neue | |
Ski-Bindungen machen die Ski-Länge unwichtig. Damit wird die Hungerbremse | |
der Fis ausgehebelt. | |
Anhörung zur Magersucht: Hungern bis zum Tod | |
Der Familienausschuss diskutiert heute mit Experten über Magersucht. Mehr | |
als 100.000 Menschen sind betroffen - darunter immer mehr Jungen und | |
Männer. |