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# taz.de -- Verhütung und Hartz IV: Lieber Klassenfahrt als Pille
> Seit es Hartz IV gibt, verhüten bedürftige Frauen seltener, weil ihnen
> das Geld dazu fehlt. Die Zahl ungewollter Schwangerschaften nimmt deshalb
> zu.
Bild: Für manche schlicht zu teuer: die Pille.
Jetzt hat Waltraud Rockus* endlich Ruhe. Der Arzt hat sie sterilisiert.
"Ich bin 41 Jahre alt, meine Familienplanung ist abgeschlossen. Ich liebe
meine beiden Kinder, aber noch ein Kind, das hätte ich wegmachen lassen."
Was für viele Frauen und Männer Alltag ist - der genau geplante Einsatz von
Verhütungsmitteln, um nicht ungewollt schwanger zu werden -, das war für
Rockus einige Jahre lang eine Zitterpartie. Als der Handyhersteller
Motorola in Flensburg ein paar hundert Beschäftigte entließ, war auch
Rockus darunter. Seit 2005 erhält sie Hartz IV. "Das Verhüten wurde zum
echten Problem. Ich musste mir das Geld dafür vom Essen absparen, habe
manchmal zwei oder drei Monate gar nicht verhütet."
"Wir beobachten das Problem seit einigen Jahren in unseren
Beratungsgesprächen. Frauen haben nach internationalen Abkommen eigentlich
das Recht auf freie Wahl der Verhütungsmittel. Vielen fehlt jedoch
schlichtweg das Geld, um vernünftige Familienplanung zu betreiben", sagt
Susanne Just-Mackensen, Leiterin der Pro-familia-Beratungsstelle
Köln-Zentrum.
Viel Zahlenmaterial gibt es bisher nicht über das Phänomen. Aber viele
Erzählungen und wenigstens eine kleine Studie: Bereits 2006 befragte eine
Mitarbeiterin von pro familia in Köln 69 Frauen, die zum Teil seit mehreren
Jahren arbeitslos waren. Das Ergebnis war alarmierend: Seit der Einführung
von Hartz IV 2005 sank die Quote derjenigen, die immer verhüten, von zwei
Drittel auf ein Drittel. Die Anzahl derjenigen, die nie verhüten, stieg
hingegen von 6 auf 16 Prozent. Und das, obwohl keine der befragten Frauen
einen Kinderwunsch hatte.
Vielmehr erlebten die arbeitslosen Frauen eine mögliche Schwangerschaft als
"sozioökonomische Bedrohung", schreibt Annelene Gäckle in ihrer Studie. Die
Frauen, die weiterhin verhüteten, erinnerten sich mit Beginn des
Hartz-IV-Bezugs darum sogar besser daran, regelmäßig die Pille einzunehmen
oder das Diaphragma einzusetzen - sofern das Geld dafür da war.
## 15 Euro für "Gesundheitspflege"
Denn seit der Einführung von Hartz IV müssen Frauen ab 21 Jahre
Verhütungsmittel von dem Geld aus dem Regelsatz bezahlen. Eine Packung der
Pille kostet im Monat zwischen 10 und 15 Euro, eine Zehnerpackung Kondome
ein paar Euro weniger. Im neu berechneten Regelsatz sind für die
"Gesundheitspflege" jedoch nur etwas über 15 Euro im Monat vorgesehen.
Davon muss alles bezahlt werden: Medikamente, Zuzahlungen in den Apotheken,
die Praxisgebühr und die Empfängnisverhütung. Die Folgen lassen nicht lange
auf sich warten: Manche Paare verzichten ganz auf Verhütung oder greifen
häufiger auf Kondome zurück, bei deren Anwendung schneller mal etwas
schiefgehen kann. Allein während Gäckle für ihre Studie forschte, wurden in
Köln 27 der befragten Frauen ungewollt schwanger.
"Ganz typisch war, dass Frauen Geld für die Pillenpackung zurückgelegt
hatten und das Kind in der Schule plötzlich ein Buch oder einen Ausflug
bezahlen musste. Dann stand die Verhütung zurück", sagt Simone Hartig,
Leiterin von pro familia in Flensburg. Sie ist froh, dass sie von diesen
Problemen in der Vergangenheitsform berichten kann.
Denn Flensburg hat ein Pilotprojekt auf die Beine gestellt: Drei Jahre lang
bezahlt die Stadt Frauen und Männern, die wegen Hartz IV, einer Ausbildung
oder einem Niedriglohnjob nachweislich wenig Geld haben, das
Verhütungsmittel. Zwischen 25.000 und 30.000 Euro kostet das die Stadt
jährlich, betreut wird das Ganze von pro familia, die sich mit Ärzten und
Apotheken vor Ort koordiniert.
Petra Bazan, in der Stadtverwaltung für Jugend, Soziales und Gesundheit
zuständig, ist stolz darauf, dass das Projekt 2008 auf parteiübergreifende
Zustimmung stieß: "Wir sind eine arme Stadt, aber das Geld ist gut
investiert. Warum soll man bedürftige Frauen durch eine ungewollte
Schwangerschaft noch tiefer in die Armutsspirale stürzen?"
## Prävention in Flensburg
Zumindest in Flensburg setzt man lieber auf Prävention. 2010 finanzierte
die Stadt insgesamt 180 Frauen und 6 Männern Verhütungsmittel. Dazu
gehörten vor allem die Pille, aber auch Spiralen, empfängnisverhütende
Dreimonatsspritzen oder Sterilisationen, um die einige wenige Frauen und
Männer baten. "Aber in den letzten Monaten von 2010 ging das Geld zu Ende,
und 2011 läuft das Modellprojekt aus", sagt Pro-familia-Leiterin Hartig.
Petra Bazan von der Stadtverwaltung betont, die Stadt bemühe sich um eine
Anschlussfinanzierung. Aber die finanziellen Möglichkeiten seien eben
begrenzt. "Und es kann eigentlich auch nicht die Aufgabe der Kommunen sein,
sich darum zu kümmern."
Doch die Bundesregierung sieht keinen Handlungsbedarf. Als die
SPD-geführten Länder im November die Regierung im Bundesrat drängten, im
Zuge der Hartz-IV-Reform auch die Empfängnisverhütung für Frauen über 20
Jahre sicherzustellen, antwortete diese, die Einschätzung, dass der
Regelsatz für Verhütungsmittel nicht ausreiche, teile man nicht. Auch den
Zusammenhang zwischen finanzieller Lage und der Zunahme von
Schwangerschaftsabbrüchen bei hilfebedürftigen Frauen weist die Regierung
zurück.
Dabei bedeuten eine ungewollte Schwangerschaft und eine Abtreibung nicht
nur eine seelische, sondern auch eine finanzielle Belastung. Und zwar für
die Länder: Während der Bund an den Verhütungskosten spart, zahlen sie rund
500 Euro pro Schwangerschaftsabbruch, wenn eine bedürftige Familie das Geld
für den Eingriff nicht hat. Es ist ein Paradebeispiel dafür, wie
Folgekosten einer politischen Entscheidung einfach vom Bund auf die Länder
weiter verschoben werden. 1,4 Millionen Euro hat allein Schleswig-Holstein
2010 für Schwangerschaftsabbrüche bezahlt.
Bei der Verhütung sind Hartz-IV-Empfängerinnen derweil auf die freiwillige
Hilfe der Kommunen angewiesen. Die aber sei ein "Flickenteppich",
kritisiert pro familia. Eine Erhebung der Familienberatungsstelle von Ende
2009 hat ergeben, dass bundesweit nur 59 von 181 Pro-familia-Stellen davon
berichten konnten, dass in ihrer Region die Kommune die Verhütungsmittel
bezahlt. Allein in Berlin sponsert die rot-rote Regierung
Hartz-IV-Empfängern flächendeckend die Verhütungsmittel, was das Land 2,6
Millionen Euro im Jahr kostet.
## Kostenlose Verhütungsmittel finanzieren
Andere Länder könnten nachziehen: In Mecklenburg-Vorpommern hat das
SPD-geführte Sozialministerium den Plan, zumindest in Schwerin und im
Landkreis Demmin ein Modellprojekt zu etablieren, um die Pille, Spiralen
oder Diaphragmen zu bezahlen. Geschätzte Kosten: 440.000 Euro. Für
Schwangerschaftsabbrüche zahlt das Land jährlich rund 1,1 Millionen Euro.
Das Diakonische Werk Mecklenburg-Vorpommern betont jedoch, das gesamte
Problem sei längst bekannt. Statt Modellregionen einzuführen, solle
Mecklenburg-Vorpommern lieber direkt allen Beziehern von ALG II oder
Sozialhilfe kostenlose Verhütungsmittel finanzieren.
Waltraud Rockus zumindest kann aufatmen. Die Flensburger Beratungsstelle
finanzierte ihr zuerst einen Hormonring, der in die Scheide eingesetzt
wird. "Die Pille vertrage ich nicht, davon muss ich immer spucken." Der
Ring kostete für drei Monate rund 50 Euro, zu teuer für Rockus. Vor ein
paar Wochen hat die Familienberatung die Kosten von 500 Euro für eine
Sterilisation übernommen. Rockus ist froh darüber, ein drittes Kind wäre
für die mittlerweile Alleinerziehende nicht zu bewältigen gewesen. "Ich
könnte meinen Kindern gar nicht mehr gerecht werden." Geschweige denn
wieder arbeiten gehen: Seit März hat sie für ihre dreijährige Tochter
endlich einen Kitaplatz, der sechsjährige Sohn geht in die Schule. "Jetzt
such ich mir Arbeit, egal was. Ich war lange genug nur Mama."
* Name von der Redaktion geändert
11 Mar 2011
## AUTOREN
Eva Völpel
## TAGS
Familie
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