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# taz.de -- Freie Schule in Mecklenburg-Vorpommern: Die Schulschlacht von Lüch…
> Weil jede zweite Schule in Mecklenburg-Vorpommern schließen muss,
> gründeten Eltern eine neue. Auf dem platten Land. Seither kämpfen sie
> gegen die Behörden.
Bild: "Wenn wir bleiben, brauchen wir eine Schule": Hier das umgebaute Schulgeb…
LÜCHOW/ALTKALEN taz | An einem Montagmorgen im Januar rücken sie an: zwei
Mannschaftswagen der Polizei und ein Einsatzfahrzeug, Mitarbeiter des
Jugendamts, des Schulamts und des Bildungsministeriums. Ihr Ziel: das Dorf
Lüchow, ein Flecken inmitten von Feldern auf halbem Weg zwischen Müritzer
Seenplatte und Ostsee. Gemeindebürgermeisterin Renate Awe, von der
Nebenstraße kommend, muss bremsen, folgt dann dem Tross und ruft ihren
Stellvertreter an. "Jetzt kommt die Staatsmacht."
Vor dem Schulhaus am Ortseingang hält die Karawane. Die Beamten nähern sich
dem zweistöckigen Gebäude. Sie klingeln. Niemand öffnet. Das Haus ist
verlassen, die Schule geschlossen. So wie es der mecklenburg-vorpommerische
Bildungsminister Henry Tesch (CDU) angeordnet hat. Zwischen Spielplatz und
Schule verteilen sich die Damen und Herren und warten auf die potenziellen
Gesetzesbrecher: Schüler, Eltern oder Lehrer.
Bürgermeisterin Renate Awe ist weitergefahren. "Richtig geschockt war'n
wir." Ungläubig schüttelt sie den Kopf mit den kurzen weißen Haaren: "Das
is nich mehr zu verstehen, was sich hier abspielt."
Was sich in ihrer Gemeinde abspielt, ist eine Mischung aus Dorfschwank und
antiker Tragödie: In dem mecklenburgischen Dörfchen Lüchow liefern sich
zugezogene Eltern, die Betreiber der "Landschule Lüchow" und das
mecklenburgische Kultusministerium seit einem halben Jahr ein Duell, das
nicht nur die Bürger der Gemeinde mit jeder Menge Gesprächsstoff versorgt,
sondern auch die Gerichte beschäftigt und mittlerweile das
Bundesverfassungsgericht erreicht hat. Denn das Land hat der Schule in
freier Trägerschaft aus "pädagogischen und konzeptionellen Gründen" im
Oktober 2010 die Genehmigung entzogen, seit 21. Februar 2011 ruht der
Unterricht.
Begonnen hat alles Ende der 90er Jahre. Damals kaufte der Berliner
Architekturstudent Johannes Liess ein heruntergekommenes Bauernhaus in
Lüchow. Als Liess im Dorf eintrifft, sind gerade mal noch drei Häuser
bewohnt - von fünf Rentnern.
Liess' Locken werden allmählich grau, er ist gut im Geschäft und hat für
sich, seine Frau und die vier Kinder ein neues Wohnhaus in Lüchow
errichtet. Drum herum sind alle intakten Häuser wieder bewohnt, die
amtliche Einwohnerstatistik verzeichnet im März 38 Einwohner mit
Hauptwohnsitz in Lüchow. "Wir haben irgendwann beschlossen zu bleiben",
sagt er. "Aber uns war klar: Wenn wir bleiben, brauchen wir eine Schule."
Eine Schule, in der Kinder unbeschwert lernen können.
Eine Schule, die auch die Freunde der Kinder besuchen.
Eine Schule, die den Kern einer neuen intakten Dorfgemeinschaft bilden
soll: mit Kindergarten und Dorfladen, Dorffesten und Kino,
gemeinschaftlichem Lebensmitteleinkauf und Carsharing.
Der Elternverein Landschule Lüchow beantragt 2004 die Genehmigung für eine
Schule waldorfpädagogischer Prägung. Am 21. August 2006 werden die ersten
vier Schüler eingeschult. Neue Einwohner ziehen in die maroden Lüchower
Backsteinhäuser ein: Johannes Liess' Bruder, ein Anwalt aus Göttingen, wird
mit seiner Familie hier sesshaft. Eine Lehrerin übersiedelt aus Lübeck,
eine zweite kommt aus Hamburg dazu.
Im Jahre 2008 wird das neue Schulgebäude am Ortseingang eingeweiht,
wildrosafarben und mit teilverglastem Dach. An der Fassade sind die Tafeln
der Stifter angebracht: die europäische Union und das Land
Mecklenburg-Vorpommern. Rund 380.000 Euro flossen allein aus dem Etat des
Landwirtschaftsministeriums in eine Schule, die das Bildungsministerium
gerade für immer schließen will.
## "Zu hoher Anspruch"
"Wenn es die Schule nicht mehr gibt, dann gibt es hier bald ein paar
billige Immobilien mehr." Johannes Liess lächelt, als er heißes Wasser auf
Kaffeepulver gießt. Er ist Vereinsvorsitzender, Schulgründer, Architekt und
Vater in einer Person. Für einen, dem man gerade sein Ziehkind entreißen
will, wirkt er ziemlich gelassen. Der Kaffee wird indes im Becher kalt,
seine Rastlosigkeit verrät die Anspannung. Das Lehrerzimmer ist sein
Stabsquartier, man hat einen schönen Blick von hier über die weite, öde
Landschaft.
"Eigentlich begann der Ärger schon ganz am Anfang", berichtet Liess auf dem
Weg in den ersten Stock. Es riecht nach frischem Putz. Statt einer Schule
von Klasse 1 bis 12 genehmigte das Ministerium am letzten Sommerferientag
nur eine Grundschule bis Klasse vier. Liess nimmt sich einen Anwalt und
klagt.
Und plötzlich geht es nicht mehr nur um die Oberstufe, sondern um die ganze
Schule. Das Schulamt meldet sich und will wissen, ob die Kinder ausreichend
lernen. Ein vom Ministerium bestellter Gutachter, der Mainzer
Erziehungswissenschaftler Heiner Ullrich, sieht im Frühjahr 2010 - nach
gründlicher Inhaltsanalyse des Schulkonzepts - ein grundlegendes
Strukturproblem, zwischen "zu hohem programmatischen Anspruch des Konzepts
und der geringen Professionalität des pädagogischen Personals".
Im Unterricht hat er freilich nicht zugeschaut, das erledigen zwei weitere
Gutachter, Waldorfpädagogen, die das Ministerium im Mai entsendet. Zwei
Tage lang inspizieren Gerd Kellermann und Reinhild Braß die Schule. Auch
sie vermerken, dass es den Lehrerinnen an methodischer Sicherheit mangele.
In ihrem Abschlussbericht an das Ministerium heißt es gleichwohl: "Die
Schule erfüllt die […] Kriterien einer guten Schule für eine ,Schule im
Aufbau' in hohem Maße."
Liess fühlt sich bestätigt. Seiner Ansicht nach geht es dem Ministerium
schlicht darum, ein Exempel zu statuieren, die freien Schulen zu
terrorisieren und engagierte Eltern einzuschüchtern. "In den Köpfen mancher
Leute sind wir eine Bedrohung."
"Das ist aberwitzig, als ob wir freie Schulen plattmachen würden",
entgegnet Johanna Hermann, Sprecherin des CDU-Kultusministers Henry Tesch
auf die Vorwürfe. Das Ministerium habe die Schule seit 2008 permanent
darauf hingewiesen, ordnungsgemäß ausgebildetes Personal einzustellen.
"Nichts ist passiert. Da arbeiten nun mal keine qualifizierten Lehrerinnnen
- die eine ist Designerin, die andere Ingeneurin." Falsch ist das nicht.
Andererseits haben die Lehrerinnen eine zweijährige pädagogische Ausbildung
an Waldorflehrerseminaren absolviert und bereits an Waldorfschulen
unterrichtet - auch in Mecklenburg-Vorpommern und mit ordentlicher
Genehmigung vom Bildungsministerium.
Das ist Liess' Hauptargument. Inzwischen beschäftigt er mehr Anwälte als
Lehrer. Viermal hat das Ministerium seit Oktober die Schule schließen
lassen, viermal legten Liess' Anwälte Widerspruch ein und beantragten
Rechtsschutz zuletzt vor dem Bundesverfassungsgericht.
Anita Krügers ältester Sohn war bis zu den Winterferien Schüler in Lüchow.
Die dunkelhaarige freundliche Frau lebte in Sachsen, wo sie in einer
Zeitung eine Notiz über die Lüchower Landschule las. Seit eineinhalb Jahren
wohnt sie nun in Mecklenburg - mit Kompostklo im Bad und Windrad im Garten.
"Ich bin extra wegen der Schule gekommen."
"Raimund hat wie von selbst gelernt", erzählt sie. "Lesen und Rechnen, das
liegt ihm eh, aber in der Schule hat er sich auch für Sachen geöffnet, die
er nicht mochte, wie Handarbeit oder Flöten." Anfang Oktober kamen die
ersten Briefe des Ministeriums mit der Aufforderung, das Kind
"unverzüglich" umzuschulen. In weiteren Briefen wurde ihr ein Bußgeld von
2.500 Euro angedroht. "Ich hatte Angst, jetzt kommt gleich jemand die
Treppe hoch und nimmt die Kinder mit." Der älteste Sohn besucht nun - erst
mal vorübergehend - eine freie Schule in Walkendorf.
Für seinen mittleren Sohn war die Lüchower Schule zunächst eine Notlösung,
erzählt Christian Kabuß in der geräumigen Wohnküche des Altkalener
Pfarrhauses. Der Sohn steht in Socken auf den Dielen und wäscht in einer
Schüssel Geschirr ab. "Sein Projekt für die Winterferien", erklärt Kabuß,
so als wäre das eine der üblichen Freizeitbeschäftigungen von
Drittklässlern. Er und seine Frau, beide freiberufliche Grafiker, kamen vor
einem halben Jahr aus Berlin nach Mecklenburg, mieteten das Pfarrhaus und
meldeten den Sohn in der staatlichen Grundschule im neun Kilometer
entfernten Gnoien an.
Die Stänkereien begannen schon im Schulbus und gingen in der Pause weiter.
"Sie kamen nach vorn und haben mich bespuckt", ergänzt der Junge den Vater,
während er seine ganze Aufmerksamkeit dem abzutrocknenden Glas widmet. Als
sein Interesse an Schule fast erloschen war, meldeten ihn die Eltern an der
Lüchower Schule an. "Um ihn zu schützen, obwohl wir das Risiko ahnten." Den
Streit, die Schließungen und die amtlichen Bußgeldandrohungen - all das
habe er mit seiner Frau am Küchentisch besprochen: "Wir sind uns einig: Für
unser Kind haben wir das Beste getan." Der Junge besucht nun eine freie
Schule im zehn Kilometer entfernten Neukalen.
Kabuß, der kein Auto besitzt, hat ein Tandem gekauft. Im Frühjahr und
Sommer seien die zehn Kilometer ja kein Problem. Aber im Winter? "Wir
denken erst mal nur bis zum Sommer." Sagt er. Sagen auch Anita Krüger und
Johannes Liess: "Bis zum Sommer können wir die Eltern auf jeden Fall
halten." Und danach? Liess guckt versonnen aus dem Fenster über die Felder.
Gerade sind die Kraniche zurückgekehrt, er zeigt auf die Vögel: "Es wird
doch mal wieder Sommer."
11 Mar 2011
## AUTOREN
Anna Lehmann
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