# taz.de -- Studie "Das kurze Glück der Gegenwart": Die Vermessung des Augenbl… | |
> Der Literaturkritiker Richard Kämmerlings sortiert in seiner Studie "Das | |
> kurze Glück der Gegenwart" die deutschsprachigen Romane der vergangenen | |
> zwei Jahrzehnte. | |
Bild: Gegenwart klingt immer gut. Interessant wird es, wenn man genauer hinsieh… | |
Gegenwart klingt immer gut. Interessant wird es, wenn man genauer hinsieht, | |
was damit gemeint ist. Bei dem Literaturkritiker Richard Kämmerlings | |
umfasst die Gegenwart einen Zeitraum von mittlerweile zwei Jahrzehnten, | |
seit der Wiedervereinigung, was schon mal einen sehr viel breiteren Begriff | |
von Gegenwart darstellt als etwa die komplexen Augenblicke, die Rainald | |
Goetz immer so emphatisch auflädt. | |
Und die Literatur der Gegenwart besteht dann für Richard Kämmerlings aus | |
den Romanen, die sich mit den Themen beschäftigen, die in diesem Zeitraum | |
angesagt waren. Weshalb so unterschiedliche Erfolgsbücher wie "Die | |
Vermessung der Welt" von Daniel Kehlmann, "Die Mittagsfrau" von Julia | |
Franck und "Der Turm" von Uwe Tellkamp bei ihm herausfallen. Sie | |
beschäftigen sich halt mit Vergangenheit wie dem 18. Jahrhundert | |
(Kehlmann), der Weimarer Republik (Franck) und der DDR (Tellkamp). | |
Das ist der gedankliche Rahmen, in dem Richard Kämmerlings nun die | |
aktuellen Bestände sortiert. Seine Überblicksstudie "Das kurze Glück der | |
Gegenwart" ist ein direktes, redliches, belesenes, sowieso gut | |
geschriebenes und auch brauchbares Buch. Es bringt Spaß, es mit aufs Sofa | |
oder ins Café zu nehmen und manche seiner einschlägigen Leseerfahrungen der | |
vergangenen Jahre widergespiegelt zu finden. | |
Manchmal freut man sich beim Lesen auch sehr, zum Beispiel darüber, dass | |
Annett Gröschners in der Tat ja großartiges Buch "Moskauer Eis" zu den | |
wichtigsten zehn Romanen seit 1989 gezählt wird. Über manches wundert, ja | |
ärgert man sich auch, wenn etwa solche gegenwärtigen Autoren wie Henning | |
Ahrens nur nebenbei oder wie Michael Kleeberg nur mit Nebenwerken oder wie | |
Stephan Thome gleich gar nicht vorkommen. Aber wer zuletzt eher einen Bogen | |
um die deutschsprachige Gegenwartsliteratur gemacht hat, findet immer noch | |
Hinweise und Namen genug, um die Beschäftigung nachzuholen. | |
Überhaupt ist so ein Überblick schlicht wohl einmal fällig gewesen. Und | |
sympathisch ist er als Versuch, den gerade in diesem Jahr hochtourig | |
laufenden Ansätzen, alte Meister wie Max Frisch oder auch Thomas Bernhard | |
ungebrochen als Maßstäbe für die Gegenwart festzuschreiben, etwas | |
entgegenzusetzen. | |
Richard Kämmerlings, 1969 geboren, der seine Laufbahn bei der FAZ begann | |
und mittlerweile bei der Welt gelandet ist, markiert jedenfalls einen | |
deutlichen Bruch. Der liegt zwischen den Literaturkritikern, für die | |
Handke-Titel wie "Nachmittag eines Schriftstellers" oder "Versuch über die | |
Jukebox" noch - ob im Guten oder im Bösen - selbstverständliche | |
literarische Heimat waren, und den Kritikern, die in Christian Krachts | |
Poproadroman "Faserland" etwas deutlich Neues erkannten. Tatsächlich käme | |
man mit der Frage, ob man im Zweifel dann doch für Handke oder aber für | |
Kracht ist, übrigens ziemlich weit bei einer Schematisierung der aktuellen | |
Literaturkritikerszene - auch wenn sich die intelligentesten Kritiker aus | |
der Entscheidungssituation herauszureden versuchen würden; aber das ist | |
eine andere Geschichte. | |
"Das kurze Glück der Gegenwart" schreitet nun die Umrisse eines | |
Literaturbegriffs ab, der von dem "Faserland"-Impuls ausgehend nicht das | |
Popmäßige und Subversive betont, sondern so etwas wie bleibende und auch | |
werthaltige Literatur rekonstruieren will. Er skizziert die Wichtigkeit | |
Berlins für den neuen deutschen Roman, zeichnet die Beschäftigung mit den | |
Folgen des Mauerfalls nach, fordert die Beschäftigung mit | |
Patchworkfamilien, begrüßt den Migrations- als neuen Heimatroman. Ingo | |
Schulze, Thomas Lehr, Christoph Peters und der Rainald Goetz von "Abfall | |
für alle" sind für ihn wichtige Gewährsleute. | |
Richard Kämmerlings kann das, was den Literaturbetrieb zuletzt thematisch | |
umtrieb, überzeugend nachzeichnen. Darin liegen die Stärken seines Buches. | |
Und es erinnert an grundsätzliche Debatten wie etwa an die, die Maxim | |
Biller und Thomas Hettche ausfochten, als sie in den Neunzigern Juroren | |
beim Vorlesewettbewerb in Klagenfurt waren. Man erinnert sich ja nur noch | |
an Billers Eintreten für das Harte, Authentische, Schmerzhafte in der | |
Literatur. Hettches Gegenbewegung, einen auratischen (und ziemlich | |
geniefixierten) Literaturbegriff aus dem Geiste der französischen Theorien | |
neu zu formulieren, ist dagegen weitgehend vergessen. | |
Mindestens ebenso interessant sind aber die Schwächen. Sie haben vor allem | |
damit zu tun, dass Richard Kämmerlings sich systematisch am Plot der Romane | |
und ihren thematischen Bezügen orientiert. Das bringt ihn schon immanent in | |
manche Bredouille. So kann er letztlich eben doch nicht wirklich erklären, | |
warum er Daniel Kehlmann, Julia Franck, Uwe Tellkamp zwar von der Gegenwart | |
ausschließt, Marcel Beyers Roman "Flughunde", der sich um die Nazizeit | |
dreht, aber zu ihren zentralen Büchern zählt. Beyers Roman reagiere | |
"seismografisch auf das Geschichtsgefühl der neunziger Jahre", lautet das | |
Argument. Aber, wie immer einem auch ihre Romanen nun gefallen mögen, mit | |
Geschichtsgefühl haben Kehlmann, Franck und Tellkamp auf je eigene Weise | |
durchaus zu tun. Man kann Beyer gegenwärtiger finden als Kehlmann. Aber die | |
Gründe, warum Kämmerlings das tut, bleiben vage. | |
Auch sonst bilden die Fixierungen auf Plot und Thema die Grenzen dieses | |
Ansatzes. Gegenwart, das ist letztlich für Richard Kämmerlings etwas, das | |
tatsächlich da und vorhanden ist und von dem im Grunde auch jeder | |
wohlmeinende Mensch weiß, wie es beschaffen ist - und die Schriftsteller | |
brauchen es dann nur noch in ihren Romanen umzusetzen. Aus einer solchen | |
Perspektive aber bekommt man viele interessanten Entwicklungen der | |
Gegenwartsliteratur gar nicht erst in den Blick. | |
Es gibt zum Beispiel gute Gründe dafür, gerade diejenigen Bücher für die | |
gegenwartshaltigsten zu halten, bei denen man gar nicht recht weiß, ob es | |
sich um einen Roman oder um ein Sachbuch handelt. Gregor Hens hat gerade | |
eben wieder so eines geschrieben. Es heißt "Nikotin" (Fischer Verlag) und | |
erzählt in großer Freiheit von der Schönheit der Momente des Rauchens, vom | |
Loskommen von der Nikotinsucht, von der Biografie eines Menschen, der seit | |
seiner frühesten Kindheit stets zwischen Rauchen und Nichtrauchen hin und | |
her pendelte. | |
Es ist noch gar nicht ausgemacht, ob von unserer Gegenwart nicht so ein | |
Buch bleiben wird. Die Gegenwart - das ist auch etwas, was sich ereignet | |
und wieder verweht (wie der Rauch einer Zigarette). Und gerade in solchen | |
Zwischenbüchern kann man offenbar derzeit am sorgsamsten die komplizierten | |
selbstgemachten Erfahrungen aufbewahren, die man in der Gegenwart machen | |
kann. Auf "Deutschboden" von Moritz von Uslar und "Der Tod meiner Mutter" | |
von Georg Diez, beides auch solche Zwitterbücher, geht Richard Kämmerlings | |
zwar jeweils kurz ein, lässt sich von ihnen aber nicht in seinem | |
Literaturbegriff irritieren. Mit "Der alte König im Exil", dem | |
Beschreibungsessay von Arno Geiger über sein Verhältnis zu seinem an | |
Alzheimer erkrankten Vater, kann aber so ein Zwitterbuch morgen auf der | |
Leipziger Buchmesse, die heute Abend eröffnet wird, den Leipziger Buchpreis | |
erhalten. | |
Auch einen Roman wie "Tschick" von Wolfgang Herrndorf, der für morgen auf | |
der Shortlist steht, bekommt Richard Kämmerlings nicht wirklich in den | |
Griff. Es ist leicht gemein, darauf herumzureiten, weil sich der große | |
Erfolg dieses Buches erkennbar mitten in der Schreibphase von Kämmerlings | |
Studie ereignete; aber gerade dieses Beispiel zeigt etwas Prinzipielles. | |
"Tschick" ordnet Kämmerlings unter der Ost-West-Thematik ein, schließlich | |
kurven die beiden jugendlichen Ausreißer mit ihrem geklauten Lada in den | |
neuen Bundesländern herum. Aber viel mehr Gegenwärtigkeit liegt doch in der | |
Schreibhaltung, die Wolfgang Herrndorf hier so einleuchtend gelungen ist. | |
Die Hauptfiguren werden unbedingt ernst genommen, das alles ist erkennbar | |
unter der Aufsicht der Klassiker geschrieben - in seinem Blog auf | |
[1][www.wolfgang-herrndorf.de] arbeitet sich der Autor an den Großen, etwa | |
Vladimir Nabokov, ab -, aber eben auch mit Leichtigkeit und einem großen | |
Witz. Dahinter steckt eben auch ein ganz gegenwärtiger Umgang mit | |
Literatur. | |
Gregor Hens und Wolfgang Herrndorf nutzen hier Möglichkeiten der Gegenwart, | |
für die Richard Kämmerlings noch keinen rechten Begriff hat. Aber das hat | |
auch etwas Tröstendes. Die Gegenwart wird ja immer erst. Und eines ist auch | |
Richard Kämmerlings klar: Romane, die erkennbar dafür geschrieben sind, um | |
in solche Bücher aufgenommen zu werden, sind garantiert nicht gegenwärtig. | |
15 Mar 2011 | |
## LINKS | |
[1] http://www.wolfgang-herrndorf.de | |
## AUTOREN | |
Dirk Knipphals | |
Dirk Knipphals | |
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Roman | |
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