# taz.de -- Verstrahltes AKW-Gelände: Lügen in der Datenflut | |
> Die Messdaten über die radioaktive Strahlung auf dem Gelände von | |
> Fukushima I sind scheinbar niedrig. Die Instrumente stehen nicht direkt | |
> an den Reaktoren. | |
Bild: Je nachdem, wo auf dem Gelände von Fukushima I die Strahlung gemessen wi… | |
BERLIN taz | Glaubt man der japanischen Behörde für Industrie- und | |
Atomsicherheit Nisa, dann gibt es am AKW Fukushima I kaum Probleme: 338 | |
Mikrosievert pro Stunde seien am Donnerstag am Westtor der Anlage gemessen | |
worden, hieß es: "Immer noch viel höher, als es sein sollte, aber nicht | |
gefährlich." | |
Es gibt aber auch ganz andere Daten. Denen zufolge werden Arbeiter schwer | |
verstrahlt und werden in der 20-Kilometer-Zone rund ums AKW ganze | |
Landstriche möglicherweise für lange Zeit unbewohnbar. | |
Der offizielle Höchststand beim Strahlenchaos der letzten Woche waren 1.000 | |
Millisievert, die nach den Explosionen an den Reaktoren gemessen wurden. | |
Die Werte sanken dann schnell wieder auf 600 bis 800 Millisievert. Aktuell | |
werden nach den Daten der Betreiberfirma Tepco etwa 400 Millisievert pro | |
Stunde an Block 3 gemessen, 100 Millisievert an Block 4. | |
Zum Vergleich: Die 400 Millisievert, die ein Arbeiter zurzeit an Block 3 in | |
einer Stunde abbekommt, entsprechen der Belastung, die er in seinem | |
gesamten Berufsleben als AKW-Angestellter ausgesetzt sein dürfte, ohne | |
seine Gesundheit zu gefährden. | |
Die durchschnittliche Jahresbelastung in Deutschland liegt bei etwa 3 | |
Millisievert pro Jahr. 100 Millisievert pro Stunde führen zu ersten | |
Anzeichen von Strahlenkrankheit wie Übelkeit oder Haarausfall. Etwa ab der | |
10-fachen Dosis können die Auswirkungen akuter Strahlenkrankheit einsetzen, | |
die je nach Dosis und Dauer tödlich verlaufen kann. | |
## Strahlenhölle von "mehreren zehntausend Millisievert" | |
Die Messstationen aus dem AKW zeichnen offenbar ein verzerrtes Bild. Die | |
deutsche "Gesellschaft für Reaktorsicherheit" (GRS) hat auf Grundlage | |
dieser Zahlen eine Grafik erstellt. | |
Die höchsten Ausschläge liegen hier bei etwa 12 Mikrosievert. Die | |
bestätigten Höchststände lagen dagegen etwa um das Hundertfache höher. Denn | |
gemessen wurde nicht an den Reaktoren, sondern hunderte Meter entfernt am | |
Zaun der Anlage und im Westen der glühenden AKW-Blöcke - und der Wind weht | |
nach Osten. | |
Misst man dort, wo die Reaktoren qualmen, bekommt man ganz andere Werte. In | |
der Luft über Block 3 ergaben sich bereits am Mittwoch 250 Millisievert pro | |
Stunde - so viel, wie die Techniker vor Ort insgesamt abbekommen dürfen. | |
Und von den Brennelementen in den teilweise trockenen Abklingbecken sind | |
bisher keine Messdaten bekannt. Experten der GRS schätzen, dass dort eine | |
Strahlenhölle von "mehreren zehntausend Millisievert" herrscht. Das sind | |
ähnliche Werte wie nach der Katastrophe von Tschernobyl. | |
Auch in der Region um das Katastrophen-AKW schlägt sich die Strahlung | |
inzwischen deutlich nieder. Vor allem die nähere Umgebung bekommt kräftige | |
Dosen an radioaktiven Teilchen und Strahlungen ab, auch wenn nach Angaben | |
der WHO derzeit "keine unmittelbare gesundheitsschädliche | |
Strahlenbelastung" vorliegt. | |
Ein Messdatennetz des japanischen Wissenschaftsministeriums (Mext) | |
zeichnete am Mittwoch in einem Umkreis von 20 bis 60 Kilometern Werte | |
zwischen etwa 10 und 80 Mikrosievert pro Stunde auf, ein anderer Messpunkt | |
in 30 Kilometer Entfernung zeigt 170 Mikrosievert. | |
## Wind könnte drehen | |
Was bedeutet das? Ein Wert von 60 Mikrosievert pro Stunde, wie er etwa an | |
Punkt 6, 30 Kilometer nordwestlich des AKW Fukushima gemessen wird, zeigt | |
eine Tagesbelastung von etwa 1,5 Millisievert pro Tag - also knapp die | |
normale jährliche Belastung in Deutschland. | |
Bliebe es über ein ganzes Jahr bei einer Strahlung aus Fukushima wie | |
derzeit, so würde die Belastung an diesem Punkt in einem Jahr deutlich | |
höher liegen als sie für einen AKW-Angestellten in seinem ganzen | |
Berufsleben vorgesehen ist. "Diese Zahlen zeigen auf jeden Fall, dass im | |
Moment in Fukushima eine Katastrophe geschieht", sagt Gerald Kirchner vom | |
Bundesamt für Strahlenschutz (BfS). | |
"Bliebe es bei diesen Werten, muss man mit deutlich erhöhten Werten und | |
Langzeitfolgen rechnen. Der deutsche "Eingreifrichtwert" für die | |
Evakuierung der Bevölkerung in so einem Falle beträgt 100 Millisievert pro | |
Jahr." Diese Grenze ist in der Gegend um Fukushima weit überschritten: Am | |
Messpunkt 6 wären es hochgerechnet pro Jahr 525 Millisievert. | |
Derzeit kämpfen die Rettungskräfte verzweifelt dagegen, dass in Fukushima | |
die Reaktoren und Brennelemente durchbrennen. Wie lange die nuklearen Lecks | |
die Gegend verseuchen, wird darüber entscheiden, ob die Region um das AKW | |
bewohnbar bleibt. | |
Bisher waren zumindest die Bewohner des Großraums Tokio von der Belastung | |
aus Fukushima relativ gut geschützt. Doch am Wochenende und Anfang der | |
nächsten Woche soll der Wind mehrfach drehen und teilweise aus Norden | |
kommen. Dann liegt auch Tokio in der radioaktiven Abgasfahne von Fukushima. | |
18 Mar 2011 | |
## AUTOREN | |
Bernhard Pötter | |
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