# taz.de -- Arabische Revolutionen und die Türkei: Erdogans Dilemma | |
> Die türkische Regierung bemüht sich weiter um gute Kontakte zu den | |
> Machthabern in Syrien und Libyen. Ein Grund dafür sind wirtschaftliche | |
> Interessen. | |
Bild: Tete-à-tete in Tripolis im November 2009: Tayyip Erdogan und Muammar al … | |
ISTANBUL taz | "Die Türkei", sagt Soli Özel, Nahostexperte der renommierten | |
Kadir-Has-Universität, "ist in einem großen Dilemma". Seit in der | |
arabischen Welt die Menschen gegen ihre Diktatoren aufbegehren, weiß Ankara | |
nicht, "ob es die Demokratiebewegungen unterstützen soll, oder sich doch | |
lieber mit den Machthabern weiter gutstellt". | |
Hatte Ministerpräsident Tayyip Erdogan seinen ägyptischen Kollegen Husni | |
Mubarak noch als einer der ersten aufgefordert, dem Willen des Volkes | |
nachzugeben und sich zurückzuziehen, blieb die Regierung stumm, als | |
saudische Truppen nach Bahrein marschierten. Als die iranische Opposition | |
zur Unterstützung der Ägypter auf die Straße ging, saß der türkische | |
Präsident Abdullah Gül am selben Tag mit seinem iranischen Kollegen Mahmud | |
Ahmadinedschad zusammen, um über den Ausbau der beiderseitigen | |
Handelsbeziehungen zu beraten. | |
Diese Widersprüche erreichten mit dem Aufstand in Libyen einen neuen | |
Höhepunkt. Plötzlich gehörte die türkische Regierung nicht mehr zu den | |
Demokratieexporteuren, sondern warnte vor Chaos, falls Gaddafi gestürzt | |
werden sollte. Die Türkei hat seit langem große ökonomische Interessen in | |
Libyen. Schon vor zwanzig Jahren holte Gaddafi als einer der ersten | |
Baufirmen vom Bosporus für große Infrastrukturprojekte ins Land. | |
Daraus wurde ein gewaltiger Markt. Als der Aufstand losbrach, musste die | |
Türkei 30.000 Landsleute evakuieren. Milliardenaufträge stehen auf dem | |
Spiel. Kein Wunder, dass Erdogan massiv gegen eine militärische | |
Intervention opponierte und bis heute den Kontakt zu Gaddafi aufrecht | |
erhält. | |
Obwohl Ankara in der Frage des Nato-Kommandos für die Luftüberwachung in | |
Libyen nachgab und damit den Weg für die Nato als Führungsinstitution frei | |
machte, setzt die türkische Regierung auf eine Verhandlungslösung. Wie ein | |
Sprecher des Außenministeriums kürzlich erläuterte, hat die Türkei immer | |
noch eine diplomatische Vertretung in Tripolis und gleichzeitig Diplomaten | |
in Bengasi. | |
Ankara hat sich bereit erklärt, mit eigenen Soldaten die Sicherung des | |
Flug- und Seehafens in Bengasi zu übernehmen, um über Luft- und Seewege | |
Lebensmittel und humanitäre Güter ins Land zu bringen. In London bot | |
Außenminister Ahmet Davutoglu aber auch noch einmal an, türkische | |
Diplomaten könnten als Vermittler zwischen den Aufständischen und Gaddafi | |
tätig werden, um einen friedlichen Übergang auszuhandeln. | |
## Freundschaftliches Verhältnis auch zu Syrien | |
Ankara ist sehr dafür, Gaddafi die Möglichkeit eines Exils ohne | |
Strafandrohung in Den Haag einzuräumen. "Nur so kann man weiteres | |
Blutvergießen verhindern", ist ein Sprecher des Außenministeriums | |
überzeugt. | |
Ob nun auf türkische Vermittlungsangebote eingegangen wird oder nicht, mit | |
humanitärer Hilfe für die Aufständischen und gleichzeitiger | |
Aufrechterhaltung des diplomatischen Kanals zu Gaddafi: die türkische | |
Regierung hat sich in Libyen leidlich aus dem von Experten beschriebenen | |
Dilemma herausgezogen. | |
Richtig brenzlig für die Türkei wird es aber jetzt in Syrien. Verglichen | |
mit Syrien sind Ägypten und Libyen weit weg. Syrien aber ist direkter | |
Nachbar und außerdem der wichtigste Partner der Erdogan-Regierung für die | |
neue, nach Osten ausgerichtete Außenpolitik der AKP. | |
Nach langen Jahren eines Kalten Krieges zwischen der Türkei und Syrien hat | |
Erdogan den Ballast der Vergangenheit beiseite geräumt und zu Baschar | |
al-Assad eine geradezu freundschaftliches Verhältnis aufgebaut. Assad hatte | |
Erdogan gebeten, zwischen Syrien und Israel zu vermitteln und die Türkei | |
damit erstmals als Regionalmacht aufgewertet. | |
Mit Assad hat Erdogan weitreichende Wirtschaftsabkommen abgeschlossen, es | |
war sogar die Rede von einer Freihandelszone zwischen Syrien, Jordanien, | |
Libanon und der Türkei, die zur Keimzelle einer | |
Nahost-Wirtschaftsgemeinschaft werden sollte. Die Türkei schaffte die | |
Schlagbäume zu Syrien ab, die Grenze kann heute von beiden Seiten ohne | |
Formalitäten passiert werden. | |
Mit anderen Worten: Assad ist die Schlüsselfigur für die türkische | |
Nachbarschaftspolitik in der Region. Entsprechend besorgt blickt die | |
Regierung auf die Zusammenstöße in Syrien. Erdogan und Davutoglu haben | |
Assad beschworen, durch eine konsequente Reformpolitik wieder selbst die | |
Offensive zu ergreifen. Mit der Ankündigung, den seit 48 Jahren bestehenden | |
Notstand aufheben zu wollen, hat Assad einen ersten Schritt gemacht. Auf | |
die türkische Regierung können Protestler in Syrien nicht hoffen. Erdogan | |
wird Assad stützen, solange es geht. | |
31 Mar 2011 | |
## AUTOREN | |
Jürgen Gottschlich | |
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