# taz.de -- Literaturnobelpreisträger Oe über Fukushima: "Hier gibt es keine … | |
> Literaturnobelpreisträger Kenzaburo Oe über die Katastrophe von | |
> Fukushima, den Bombenabwurf von Hiroshima und die breite Akzeptanz der | |
> Japaner für Atomenergie und -waffen. | |
Bild: Verarbeitung: Laternenparade zum 63. Gedenktag von Hiroshima. | |
taz: Herr Oe, in den Nachrichten wird vor radioaktiv belastetem | |
Leitungswasser in Tokio gewarnt. Welche Auswirkungen hat die | |
Reaktorkatastrophe auf Ihr persönliches Leben? | |
Kenzaburo Oe: Die Warnung vor radioaktiv verunreinigtem Leitungswasser in | |
Tokio, die eigentlich nur Säuglinge und Kleinkinder betraf, hat eine kleine | |
Panik verursacht. Auch ich stehe jetzt jeden Morgen vor dem Supermarkt in | |
Tokio Schlange, um meine rationierte 1,5-Liter-Trinkwasserflasche zu | |
kaufen. Vor 40 Jahren habe ich eine Reportage über den Betrieb von | |
Atomkraftwerken geschrieben, und jetzt sitze ich von morgens bis abends | |
vorm Fernseher und verfolge die Nachrichten. | |
Wie nehmen Sie zurzeit Japan und die Menschen in Ihrer Umgebung wahr? | |
Ich bin beeindruckt, wie ruhig und besonnen die Opfer der | |
Tsunami-Katastrophe reagieren. Auch im Fernsehen wird deutlich, was für | |
eine Geduld diese Menschen besitzen, eine Charakterstärke, die man | |
allgemein den Bewohnern im Nordosten der Hauptinsel Honshu nachsagt. Seit | |
bekannt wurde, dass landwirtschaftliche Produkte und Milch radioaktiv | |
verstrahlt sind, müssen Bauern ihre Produkte vernichten. | |
Sie haben zeit Ihres Lebens vor der Gefahr durch Atomwaffen und Atomkraft | |
gewarnt, weil Sie als Kind den Atombombenabwurf auf Hiroshima und Nagasaki | |
erlebt haben. Damit standen Sie ziemlich allein da in Japan. Fühlen Sie | |
sich jetzt in Ihrem Denken bestätigt? | |
Ich fand es angesichts der weltweiten Verbreitung von Atomwaffen | |
beachtlich, dass letztes Jahr zum ersten Mal bedeutende Politiker aus | |
Amerika und Europa am 6. August an der Gedenkfeier zum Atombombenabwurf in | |
Hiroshima teilnahmen und gemeinsam auf die Gefahr der atomaren Abschreckung | |
hingewiesen haben. | |
Allerdings betonte unsere Regierung erneut die Wichtigkeit eines atomaren | |
Schutzschirms. Sie ist von der Macht und Effektivität der atomaren | |
Abschreckung überzeugt, vertraut auf das Militärbündnis mit den USA und | |
glaubt andererseits fest daran, dass Atomkraft die größte und beste | |
Energiequelle ist. Diese beiden Faktoren sind, was die Entscheidung für die | |
Zukunft Japans betrifft, unweigerlich miteinander verknüpft. Ich hoffe | |
sehr, dass die schrecklichen Ereignisse in Fukushima ein nationales Nein | |
zur Atompolitik auslösen. | |
Sie haben in Ihrem Buch "Hiroshima-Notizen" die Atombombe als Symbol des | |
Bösen bezeichnet, demgegenüber sich gleich darauf das Gute regte: das | |
Handeln, der Wiederaufbau. Worin könnte jetzt das Gute bestehen? | |
Als Antwort darauf möchte ich aus dem Aufsatz eines befreundeten | |
Journalisten zitieren, der lange in Hiroshima über die Lage der | |
Atombombenopfer berichtet hat. Leider ist er schon tot, sein Aufsatz stellt | |
eine Art Vermächtnis dar. Er fragt darin: "Hat sich Hiroshima in unserer | |
Erinnerung als ein großes menschliches Desaster eingeschrieben oder als | |
erste große Folge der atomaren Abschreckung?" | |
Die gleiche Frage möchte ich jetzt angesichts der Krise in Fukushima | |
stellen: Galt das Interesse der Japaner trotz ihrer Erfahrung von Hiroshima | |
in den 66 Jahren danach nicht weniger dem großen menschlichen Desaster als | |
vielmehr der Weiterentwicklung von Atomwaffen – und zwar amerikanischer | |
Atomwaffen, weil sie der Meinung sind, durch den atomaren Schutzschirm der | |
USA den Frieden bewahren zu können? Hat nicht die auf | |
Wissenschaftsgläubigkeit und Wissenschaftstechniken beruhende Kernenergie | |
mit ihrer enormen Macht das Florieren der japanischen Industrie | |
gewährleistet? | |
Beide, der Glaube an Atomwaffen und der Glaube an atomare Energie, bedingen | |
sich gegenseitig. Und führt uns die jetzige Katastrophe nicht vor Augen, | |
dass die Japaner mit ihrem Interesse für atomare Energie die | |
Atombombenopfer von Hiroshima verraten haben? Auf dem Kenotaph im | |
Friedenspark von Hiroshima steht der Schwur: "Ruhet in Frieden. Wir werden | |
diesen Fehler nicht noch einmal begehen." | |
Wird es denn einen Bruch, einen Neuanfang nach Fukushima geben? | |
In meinem Buch "Hiroshima-Notizen" habe ich geschrieben, dass die humanen | |
Anstrengungen der Atombombenopfer, die ebenfalls verstrahlten Ärzte | |
eingeschlossen, zum Wiederaufbau und die dadurch entstandene neue Würde die | |
Japaner nach Hiroshima mit Stolz erfüllten. Ich spreche hier von Stolz, | |
nicht vom Guten. Auch jetzt treten diese positiven humanen Anstrengungen | |
deutlich zutage. Überzeugt davon, dass die Japaner diese Tragödie | |
überwinden werden und ihnen der Wiederaufbau gelingen wird, will ich das | |
Meine dazu beitragen. Dabei sollte es nationaler Konsens sein, dass nicht | |
die Entwicklung der Atomenergie, sondern das durch die Zerstörung des | |
Atomkraftwerks verursachte humane Desaster die Grundlage für den | |
Wiederaufbau und die Zukunft Japans sein muss. Das heißt zugleich, dass | |
Japan eine Entscheidung treffen muss: sich vom Glauben an die atomare | |
Abschreckung zu lösen. | |
Wie können die Japaner, die mit dem Trauma von Hiroshima und Nagasaki | |
aufgewachsen sind, an die friedliche Nutzung der Atomenergie glauben? | |
Wenn die Japaner an die friedliche Nutzung der Atomkraft glauben können – | |
immerhin haben sie bis zum Platzen der Wirtschaftsblase auch nicht an ihrem | |
wirtschaftlichen Erfolg gezweifelt –, heißt das, dass sie nicht die | |
menschliche Tragödie in Hiroshima und Nagasaki für wichtig erachten, | |
sondern die friedliche Nutzung der Atomenergie. | |
Hat der Glaube an die eigene technologische Überlegenheit mit diesem Trauma | |
zu tun? | |
Ich bezweifle, dass Japan an seine technologische Überlegenheit glaubt. | |
Aber falls die Japaner glauben sollten, dass ihnen die technologische | |
Überlegenheit – bis zum Zerplatzen der Bubble Economy – einen ökonomischen | |
Vorsprung in der Welt ermöglicht hat, so muss dieser Glaube von Grund auf | |
in Frage gestellt werden. | |
Fühlen Sie sich in der gegenwärtigen Situation von der japanischen | |
Regierung und von den Kernkraftwerksbetreibern ausreichend informiert? | |
In den japanischen Medien wurde berichtet, dass die Liquidatoren in | |
Fukushima der Radioaktivität ausgesetzt worden wären, ohne genügend | |
informiert worden zu sein. Wenn das stimmt, können wir Normaljapaner nicht | |
mehr davon ausgehen, ausreichend informiert zu werden. | |
Nach dem Atombombenabwurf in Hiroshima haben Ärzte den Verletzten vor Ort | |
geholfen und damit ihr Leben riskiert. Empfinden Sie den Einsatz der | |
Liquidatoren in Fukushima ähnlich heldenhaft? | |
Ich habe in den "Hiroshima-Notizen" nie das Wort "heldenhaft" benutzt. Die | |
Ärzte und die Atombombenopfer haben Großartiges nicht heldenhaft, sondern | |
äußerst human geleistet. Ich hoffe, dass auch die Menschen, die in den | |
Atomkraftwerken Nothilfemaßnahmen leisten, humane Arbeit leisten können. | |
Ich lehne jegliche Tendenzen, diese Menschen zu Heldentaten anzutreiben, | |
ab. Bei einem Atomdesaster, dem alle Nationen zum Opfer fallen können, sind | |
Heldentaten unmöglich. | |
In Deutschland wurden nach dem japanischen Reaktorunglück von der sonst | |
atomstromfreundlichen Regierung sieben alte Kernkraftwerke vorerst | |
abgeschaltet. Muss auch Japan seine Kernkraftwerke vom Netz nehmen? | |
Ich hoffe, dass die japanische Regierung von der schnellen Entscheidung | |
Deutschlands lernt. | |
Sie schreiben momentan an Ihrem letzten Roman, sagen Sie. Es geht darin um | |
ein menschliches Inferno. Verschlägt Ihnen das Inferno in Nordjapan jetzt | |
nicht die Sprache? | |
Gleich auf der ersten Seite zitiere ich die letzte Zeile aus Dantes | |
"Inferno": "Dann traten wir hinaus und sahen die Sterne." In diesem Roman | |
beschreibe ich die gegenwärtige Situation in Japan aus der Innensicht eines | |
alten Schriftstellers. Während ich daran schrieb, hat im Atomkraftwerk von | |
Fukushima ein Ereignis stattgefunden, das die in mehrfachem Sinne | |
schwierige Situation dieses Landes plötzlich offen zutage förderte. | |
Die radioaktive Wolke wird sich über ganz Japan ausbreiten, und mein Roman | |
wird wohl die letzte schwierige Etappe in meinem Leben als Schriftsteller | |
sein. Mein Roman soll aber enden mit der Zeile: "Lasst uns die Sterne | |
betrachten." Was bedeutet, einen Schritt aus der Hölle zu tun. Momentan | |
sehe ich allerdings den ganzen Tag die Fernsehsendungen zur | |
Atomkatastrophe. | |
3 Apr 2011 | |
## AUTOREN | |
Nora Bierich | |
Sabine Seifert | |
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