# taz.de -- Berliner Free Jazz: Ein Universum im Entstehen | |
> Das Berliner Label Free Music Production hat in Deutschland 40 Jahre lang | |
> Maßstäbe für den Free Jazz gesetzt. Zum Abschied gibt es noch eine große | |
> Box als Rückschau. | |
Bild: Free Jazzer waren und sind beeindruckende Typen. Großzügig, objektlos u… | |
Ist Free Jazz heilbar? Dies war die Sorge des Musikers und Humoristen Xao | |
Seffcheque auf seinem Parodien-Album "Sehr gut kommt sehr gut", erschienen | |
in den frühen 80ern. Latente und manifeste Symptome dieses Leidens zeigten | |
damals, dass es, trotz aller Triumphe einer Prägnanz- und | |
Verknappungsästhetik der Punk-Jahre, angesichts des Auftretens von | |
Free-Jazz-verliebten No Wavern wie James Chance and The Contortions oder | |
James Blood Ulmer chronische Züge angenommen zu haben schien. | |
Auch heute, wo an Subventionen für nicht quotenträchtige Kultur deutlich | |
brutaler gespart wird als um 1980, ist Free Jazz und das, was inzwischen | |
daraus geworden ist, immer noch nicht ganz totzukriegen. Vielleicht ist die | |
Entwicklung improvisierter, freier Musik der einzige Bereich, der | |
tatsächlich bis heute weder von der längst liberalisierten Hoch- und | |
Theaterkultur der Premieren und Vernissagen noch von der längst | |
kommerzialisierten Indie-Rockwelt kleinbürgerlicher Narzissten eingemeindet | |
werden konnte. | |
Dass man die Free-Jazz-Welt als die letzte undomestizierte loben könnte, | |
ist allerdings zugleich das große Problem der Szene; denn echt und | |
undomestiziert ist doch immer nur die Provinz. Für das Desinteresse von | |
Kulturindustrie und gierig vereinnahmender Umwelt gibt es leider oft auch | |
gute Gründe. | |
## Kaum Wiederholungen | |
Aber trifft das auch auf diese Kultur zu? Ein 12-CD-Objekt mit | |
enzyklopädischen Datensammlungen und kenntnisreichen Essays, das die | |
Berliner Free-Jazz-Institution Free Music Production (FMP) zum Abschied | |
nach 41 Jahren veröffentlicht, weist nicht nur Wege in eine ebenso | |
ungekaufte und unabgelenkte wie vor allem langfristig operierende Kultur. | |
Während man sich in bildender Kunst und Theater, von Pop-Musik und | |
politischer Kultur ganz zu schweigen, längst daran gewöhnt hat, immer | |
wieder in bestimmten Rhythmen dieselben Diskussionen zu führen und Leuten | |
beim Neuanfang zuzusehen, die erst mal durch dieselben Aporien waten wie | |
die Vorgänger von vor fünf oder zehn Jahren, kann man hier einem Universum | |
bei der langsamen Erweiterung und Verfeinerung zusehen. Seine geringe Größe | |
und sein marginalisierter Status bürgen dafür, dass eigentlich alle | |
Beteiligten wissen, was alle anderen Beteiligten so treiben. Es gibt mithin | |
kaum Wiederholungen, dafür eine Intensität des Austausches, eine | |
Nachhaltigkeit der Entwicklung ganz ohne Zerfledderung. | |
Wie so viele uns heute noch beschäftigende Entwicklungen hat der hier | |
dokumentierte, vorwiegend europäische Free Jazz, der sich bald ganz von | |
allem Jazz verabschieden sollte, zwei große Ursprünge. Zum einen natürlich | |
Berlin 1968: Der Bruch der jungen, aggressiven, europäischen Szene mit dem | |
Mutterschiff Jazz und dessen zentraler Veranstaltung Berliner Jazztage. | |
Das von den FMP-Leuten getragene Total Music Meeting wird zur | |
Gegenveranstaltung, die schon kurz zuvor beginnende Gründung großer | |
Ensembles zur künstlerischen Ursuppe: Alexander von Schlippenbachs Globe | |
Unity Orchestra ist der Geburtsort der europäischen Kollektivimprovisation, | |
aber in großer Nähe zu zeitgenössischer Komposition - Schlippenbach ist | |
Student von Bernd Alois Zimmermann - und dem kommenden Prog-Rock-Aufstand: | |
Guru Gurus Mani Neumeier und Jaki Liebezeit von den späteren Can verteilen | |
ihre Percussions auf die Stereokanäle des ersten Globe-Unity-Albums. | |
Auch der FMP-Box-Set beginnt mit Globe Unity, einem Gig aus dem Jahre 1975, | |
dem Zeitpunkt, als die heroischen Jahre kollektiver Intensitätsproduktion | |
und überwältigender Aggression schon auf einen Wendepunkt zusteuern. | |
Der andere, tiefer liegende Ursprung oder vielleicht auch der | |
Gesprächspartner des erstgenannten Ursprungs ist die europäische | |
Fluxus-Szene. Die bis heute zentrale Figur der FMP-Kultur, Peter Brötzmann, | |
steht 1963 in der Wuppertaler Galerie Parnass und beschäftigt sich mit Nam | |
June Paik, kurz zuvor hat der ausgebildete Grafiker und bis heute aktive | |
bildende Künstler auf einem Fluxus-Foto oder -Plakat das | |
Zappa-Toiletten-Poster ein paar Jahre früher vorweggenommen. | |
Fluxus-Künstler wie Tomas Schmit sind enge Vertraute der Berliner | |
FMP-Szene. Und es bleibt lesenswert, wie der Fluxus-Komponist Henning | |
Christiansen anlässlich eines Konzerts von Cecil Taylor in Kopenhagen im | |
Jahre 1961 das Verhältnis von Fluxus und Free Jazz als produktiven | |
Gegensatz konstruiert. | |
## Schlagzeuger als Schlüsselfiguren | |
Doch während sich die Weiterentwicklungen von Fluxus in zahllosen | |
Künstlerlebensläufen und -projekten im Laufe der 70er und 80er | |
individualisierten, konnte der FMP-Kosmos immer wieder neue soziale | |
Verdichtungen hervorbringen. | |
In der ersten Phase entstehen Schlüsselstile und Schlüsselfiguren - neben | |
Brötzmann, von Schlippenbach und ihren Ensembles und einem Umfeld von | |
Workshop-Orchestern und theatralen Großgruppen wie dem Willem Breuker | |
Kollektief, sind das vor allem diese Schlagzeuger: der schwedische | |
Neodadaist, Komponist und bildende Künstler Sven-Åke Johansson, der | |
niederländische Hyperaktivist Han Bennink, dessen Arsenal an | |
Perkussionsinstrumenten ein kleines Museum verdient, und der Aachener | |
Allrounder, Labelbetreiber und Gesamtaktivist Paul Lovens, der etwa auch | |
die Textbeiträge zum Katalogbooklet übersetzt hat. | |
Hinzu kommen schon in den ersten Jahren die zahlreichen britischen | |
Verbündeten, zunächst um das Spontaneous Music Ensemble, das auch 1968 | |
dabei ist, und dann die bis heute international berühmtesten Improvisatoren | |
einer Freiheit nach dem Jazz Derek Bailey, Paul Rutherford und Evan Parker | |
- leider ist nur noch der Letztgenannte am Leben. | |
Da sind zum Glück andere britische Freunde der ersten Generation wie Tony | |
Oxley oder Keith Tippett. Eigensinnige Künstlerfiguren wie der Gitarrist | |
und Instrumentenerfinder ("Daxophone") Hans Reichel oder der Bassist und | |
Aktivist Peter Kowald vervollständigen das Bild einer Szene, die neben | |
Westberlin ihre Zentren in den Niederlanden, London, Wuppertal und - | |
zunehmend während der 70er Jahre - auch in der DDR hatte. | |
Diese erste Phase wird hier neben verschiedenen Schlippenbach-Ensembles am | |
großartigsten von einem Trio vertreten, dessen zwangloses Zusammenfügen | |
ungleicher Voraussetzungen ein besonders gelungenes Beispiel dafür abgibt, | |
wie in dieser Kultur Differenz verhandelt, ausgehandelt, mobilisiert wird; | |
nämlich ohne sie zu fetischisieren. Welchen Grund gibt es extrem zu sein, | |
wenn du es nicht mit anderen, die vom Extremsein etwas verstehen, teilen | |
kannst? | |
Ich rede von dem Trio aus Rüdiger Carl, Irène Schweizer und Louis Moholo, | |
das hier mit "? und Messer" vertreten ist. Carl, auch er ein der bildenden | |
Kunst nahestehender Musiker, der seine Interessensgebiete immer wieder neu | |
bestimmt hat, damals ganz auf der Kippe zwischen Forscher im Inneren des | |
Klanges, Witzbold und expressivem Bläser im klassischen Free-Jazz-Sinne, | |
trifft auf die wichtigste Frau der Szene, die Schweizerin Schweizer: Sie | |
baut um zahllose Ecken gedachte exzentrische Burgen mit ihren Partnern und | |
gibt doch unwiderstehlich deutliche Boogie-Signale, wenn die sich zu | |
verlieren drohen. | |
Moholo, letztes überlebendes Mitglied der seinerzeit aus Südafrika nach UK | |
ausgewanderten Truppe um die Blue Flames und die Brotherhood of Breath, | |
gibt zeitweilig unwirklich straighte Vorgaben, wenn er nicht diesen | |
dreifach gewirkten doppelten Boden aus einem Drumming legt, das von sechs | |
Armen gespielt zu sein scheint. | |
Free Jazzer - das hat mich in den 70ern als Jugendlicher an ihnen angezogen | |
- waren und sind beeindruckende Typen. Großzügig, manchmal verstockt, oft | |
etwas bäurisch, körperlich riesig, nicht kalkulierend, objektlos und | |
unfetischistisch, extrem empfindlich, leicht versoffen. Süß. Es half sie | |
live zu sehen. Wenige sind elegant in der Verausgabung wie Cecil Taylor | |
oder heute Pliakas und Wertmüller. Der zwar nie simple, aber auch in | |
diversen Brechungen noch ziemlich präsentistische Maskulinismus der ersten | |
Phase wird aber von einem Trio wie Carl/Schweizer/Moholo schon in seine | |
Bestandteile aufgezwirbelt. Es beginnt nun eine Phase der Experimente gegen | |
die Experimente, oft auf dem Wege des Solos und des Duos. | |
Damals als jugendlicher Fan war ich den Solo-Arbeiten aus dem Wege | |
gegangen: einen freien Improvisator, der auch noch für sich allein | |
arbeitet, fand ich langweilig. Anhand des neben Cecil Taylor zweiten großen | |
amerikanischen Freunds von FMP, Steve Lacy, und seiner Solo-Aufnahmen von | |
1975, sowie mit Hilfe der Solo-Stücke des Brötzmann-Pianisten Fred van Hove | |
(von 1981 und 86) kann ich genießen, wie falsch ich lag - das sind zwei | |
höllisch schöne Zwischenreiche des je und je koketten, dann wieder | |
aufbrausenden Selbstzweifels. Die dichte Sequenz von Solo-Aufnahmen und | |
Events des stets auch veranstaltenden und kuratierenden Labels um Jost | |
Gebers initiiert eine Phase von ans Eigenbrötlerische grenzende | |
Privatprojekten, die aber bald zu neuen, nun nicht mehr altexpressiven | |
Sprachen des Zusammenspiels geführt haben. | |
Ein frühes Dokument solch neuen Geistes - und damit dieser dritten Phase - | |
wäre die in dieser Box um Bonus-Tracks erweiterte CD "… und plus" von | |
Stephan Wittwer und Rudi Malfatti, ein reifes die Live-Aufnahme der Gruppe | |
Manuela mit Rüdiger Carl, Hans Reichel, Carlos Zingaro und Jin Hi Kim aus | |
dem Jahre 1999 - das gegen die kollektive, performende, präsentistische | |
Ensemble-Intensität entwickelte Frickel-Bewusstsein im Kampf mit sich | |
selbst und den kleinsten spürbaren Partikeln des Klangs hat auf | |
verschiedenen Wegen wieder, erst zu Duo-, dann zu Ensemble-Sprachen | |
gefunden. | |
## Präzise Kammerschlacht | |
Der Kreislauf der Wiederbegegnungen von FMP-Beteiligten aller Generationen | |
wird vielleicht am deutlichsten in der jüngsten Aufnahme der Box, in der | |
der amerikanische Cellist und Performance-Künstler Tristan Honsinger mit | |
dem internationalen Berliner Gitarristen und Vertreter der aktuell | |
dominanten Generation, gegen die sich zurzeit vielleicht gerade jetzt neue | |
Antithesen entwickeln. Honsinger, der mit nahezu allen in diesem Text | |
erwähnten Musikern zusammengespielt hat, aber auch auf der ersten Single | |
von The Pop Group zu hören war, liefert sich mit dem ca. 20 Jahre jüngeren | |
Rupp eine so selbstverständliche wie präzise, manchmal spielerische | |
Kammerschlacht, dass klar wird: Diese Art von momenthaft blindem | |
Verständnis kommt nur zustande, wo ein dichter Sinn des Historischen | |
besteht. | |
Den verstärkt FMP mit einem Box-Set, das weniger die eigene Geschichte | |
definiert - dafür fehlt logischerweise auch zu viel -, als dass es die Idee | |
eines Umgangs mit eigener Geschichte vorführt, der die Antithesen der | |
Nachwachsenden inkludiert, ohne alles Vorangegangene vergessen zu müssen. | |
Und das im Moment des eigenen Verschwindens: denn Jost Gebers macht das | |
Label nicht weiter. Free Jazz hat gegen die perfiden Heilungskräfte des | |
Marktes aber den ein oder anderen Antikörper ausgebildet. | |
"FMP Im Rückblick - In Retrospect" (FMP) | |
7 Apr 2011 | |
## AUTOREN | |
Diedrich Diederichsen | |
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