# taz.de -- Reportage aus der Tschernobyl-Sperrzone: Das Leben über den Grenzw… | |
> Waldbeeren, Pilze oder Milch aus der Umgebung von Tschernobyl sind | |
> weiterhin hochgiftig. Und auch die Bewohner der Gegend bleiben radioaktiv | |
> verstrahlt. | |
Bild: Kontamination ist Alltag: Leben in der Sperrzone. | |
LUIGINI taz | Es sollte ein einfaches Experiment sein, das am 26. April | |
1986 in Tschernobyl zu einem der schlimmsten Atomunfälle der Geschichte | |
führte. 25 Jahre später bestimmen die Folgen noch immer das Leben der | |
Menschen in der Ukraine. Nun droht die Regierung auch noch die | |
Unterstützung für die Opfer zu streichen. | |
"Blaubeeren", sagt die 14-jährige Mascha und grinst verschmitzt, als ihr | |
das Geständnis rausrutscht. "Blaubeeren kann ich einfach nicht widerstehen. | |
Obwohl ich weiß, dass sie radioaktiv verseucht sind." Mascha ist | |
aufgeweckt, neugierig und beteiligt sich an diesem Freitagvormittag rege am | |
Unterricht in ihrer Schule in Lugini, einer Kleinstadt in der Ukraine, | |
zweieinhalb Stunden Autofahrt nordwestlich von Kiew, 180 Kilometer | |
südwestlich von Tschernobyl. | |
Für Mascha und ihre Klassenkameraden gehören Kontaminationen, Radionuklide | |
und Grenzwerte zum Alltag. Unaufgeregt erzählen die Kinder, dass | |
verstrahlte Pilze zwei Stunden lang gekocht, dann das Wasser gewechselt und | |
sie dann noch einmal eine Stunde gekocht werden müssen. Dass Pilze, die | |
verborgen im Wald wachsen, sehr hoch verstrahlt sind. Dass sie Waldbeeren | |
lieber nicht essen sollten. Und Milch für sie auch nicht so gesund ist wie | |
gemeinhin angenommen. Während die Kinder über ihren Umgang mit radioaktiv | |
verseuchten Lebensmitteln berichten, wird Japan von einem der schwersten | |
Erdbeben seiner Geschichte erschüttert, dem ein verheerender Tsunami folgt. | |
Die Welt beginnt über die Folgen einer Atomkatastrophe nachzudenken - in | |
der Ukraine leben viele immer noch mit den Konsequenzen. | |
Die Straße in den Nordwesten des Landes zieren dichte Nadelwälder, | |
unterbrochen von weitläufigen Feldern und Sumpflandschaften, deren Ränder | |
die schwarz-weißen Borken von Birken säumen. Rehe sind nicht zu sehen. | |
Rabenkrähen krächzen verstimmt und flattern ungeschickt am Straßenrand auf. | |
Weder zu sehen noch zu hören sind die vom Wald aufgenommenen Radionuklide | |
wie Cäsium-137 oder Strontium-90. Und noch immer sind sie in den Geschenken | |
des Waldes enthalten: Pilze, Blaubeeren und Moosbeeren, in vielen Gegenden | |
der Ukraine sind sie so hoch verstrahlt, dass sie zum menschlichen Verzehr | |
nicht geeignet sind. | |
## Radionuklide Heuhaufen | |
Am Rande des Dorfes Drosdyn, dreihundert Kilometer westlich von | |
Tschernobyl, lauscht Nadja Ogiewitsch gefasst dem Geräusch des | |
Gamma-Spektrometers, dessen charakteristischer Piepston immer höhere | |
Frequenzen anschlägt. Ein Greenpeace-Team misst gerade die zwei hoch | |
aufgetürmten Heuhaufen in ihrem kleinen Garten. Sie enthalten Cäsium-137. | |
Die Werte sind sechsmal höher als in der Umgebung. | |
Die 44-Jährige schaut verzweifelt auf das Futter für ihre Kuh. Deren Milch | |
überschreitet die Grenzwerte dramatisch. Überrascht ist sie nicht. "Es gibt | |
nur wenige Orte, an denen wir im Juni und Juli das Futter für unsere Kühe | |
sammeln können, um das Heu für den Winter vorzubereiten. Wir wissen, dass | |
die Stellen verseucht sind, aber es gibt keine anderen Plätze", berichtet | |
sie. | |
Wenn die Kühe der Kleinbauern die verseuchte Vegetation fressen, sammeln | |
sich die Radionuklide in den Körpern der Tiere und landen in der Milch. | |
Milch, die Nadja und ihre Familie trinken. Die Kleinbäuerin erzählt von den | |
Folgen, die eine lang anhaltende Ansammlung von Radioaktivität im | |
menschlichen Körper auslösen kann. "Ich besitze ein Zertifikat als | |
Tschernobyl-Invalidin. Meine Blase ist angegriffen. Ich habe nur noch eine | |
Niere und die ist deformiert. Ab und an fahre ich ins Krankenhaus nach | |
Riwne, der Hauptstadt von Riwnenska Oblast, um dort behandelt zu werden." | |
Über ihrer schwarzen Strumpfhose trägt sie ein Leopardenkleid mit | |
Knopfleiste und eine grau-blau gemusterte Strickjacke. Ihre Füße stecken in | |
dunkelblauen Gummistiefeln. Ihre Haare sind unter einem rot-geblümten | |
Kopftuch verborgen. "Die Tschernobyl-Katastrophe hat mein Leben grundlegend | |
verändert. Alle meine drei Kinder sind krank und leiden unter ständigen, | |
schweren Kopfschmerzen. Ihre Blutgefäße sind so geschädigt, dass ihre | |
Blutzirkulation gestört ist. Jedes Mal wenn meine Familie und ich ins | |
Krankenhaus nach Rokitne fahren, um unsere interne radioaktive | |
Strahlendosis zu messen, liegen wir über den erlaubten Grenzwerten für den | |
menschlichen Körper." | |
Gleichzeitig betont sie, als Kleinbauern könnten sie ihren Lebenswandel | |
nicht grundlegend verändern. "Wir bauen Gemüse an. Wir können es uns nicht | |
leisten, Lebensmittel zu kaufen. Wir sammeln Pilze und Beeren in den | |
Wäldern, die essen wir auch oder verkaufen sie." Wie verseucht diese | |
Lebensmittel sind, weiß sie genau. "Auf dem Markt wird die Radioaktivität | |
in den Lebensmitteln gemessen. Früher habe ich viele Pilze verkauft, aber | |
inzwischen sind so hohe Strahlenwerte in ihnen entdeckt worden, dass sie | |
nicht zum Verkauf akzeptiert werden. Unsere Produkte überschreiten immer | |
die Grenzwerte." Sie schaut kurz in den blauen Himmel und senkt dann ihren | |
Blick. "Wir versuchen hier, so gut es geht, damit umzugehen. Das ist | |
einfach die Situation, in der wir leben." | |
In Drosdyn öffnet Tamara Ogiewitsch die Holztür der gelb gestrichenen | |
Krankenstation. Ihr hellrot gefärbtes Haar trägt sie kurz. Sie ist leitende | |
Krankenschwester. "Ich arbeite hier seit fast 42 Jahren, und die | |
gesundheitliche Situation der Dorfbewohner verschlechtert sich immer mehr", | |
sagt die patente 62-Jährige und blickt über den Rand ihrer Lesebrille in | |
bunte DIN-A5-Hefte, die als Patientenakten dienen. "Wir kämpfen hier mit | |
Brustkrebs und allen anderen Krebsformen, generellen gynäkologischen | |
Problemen, Herzkrankheiten, Anämie, starken Kopfschmerzen und | |
Konzentrationsschwächen. Im ganzen Dorf gibt es kein gesundes Kind", | |
erläutert sie und faltet die Hände auf ihrem Schreibtisch. | |
In einem ihrer Behandlungszimmer untersucht ein Greenpeace-Team gerade die | |
Strahlenbelastung von Milch, Blaubeeren, getrockneten und eingelegten | |
Pilzen und anderen Produkten, die Dorfbewohner vorbeigebracht haben. Eine | |
Milchprobe überschreitet die Grenzwerte für Kinder um das 16-Fache. | |
"Natürlich ist uns bewusst, wie verstrahlt unsere Lebensmittel sind. Aber | |
wir haben schlichtweg keine Wahl. Wenn unsere Kinder nicht einmal mehr | |
Milch trinken können, geht es ihnen noch schlechter. Deswegen trinken sie | |
auch die kontaminierte Milch, wenn sie überhaupt existiert." | |
## Antiquierte Messgeräte | |
In der ambulanten Station des Krankenhauses von Rokitne, der | |
nächstgelegenen Stadt, herrscht rege Betriebsamkeit. Die meisten Menschen | |
steuern einen breiten, bescheidenen Armsessel aus braunem Leder an. Eine | |
weiße Plastikfolie bedeckt die Sitz- und Rückenfläche. Auf dem | |
unspektakulären Stuhl wird die Aktivität von Cäsium-137 im menschlichen | |
Körper gemessen. Daneben stehen ein Computer mit integriertem | |
Diskettenlaufwerk und ein Nadeldrucker, dessen Geräuschpegel den kleinen | |
Raum erfüllt. Die Ausrüstung wirkt reichlich antiquiert. | |
Alle 15 Minuten setzen sich Patienten auf den Sessel und geben Namen, | |
Wohnort, Geburtsdatum, Größe und Gewicht an. Zwei Minuten braucht der | |
Computer, um die Strahlendosis zu berechnen. Dann speit der Drucker mühsam | |
die Ergebnisse aus. 2010 sind 3.748 Personen zum Messen gekommen. Bei 131 | |
Erwachsenen und 65 Kindern waren die Grenzwerte überschritten - allein 37 | |
Erwachsene und 22 Kinder stammen aus Drosdyn. | |
Hinter seinem u-förmigen Schreibtisch am Institut für | |
Nahrungsmittelsicherheit in Rokitne lacht der leitende Doktor Wolodimir | |
Olexandrowitsch Schuljak seine Gäste an. "Wundern Sie sich bitte nicht über | |
unsere Ausrüstung. Wir arbeiten immer unter extremen Bedingungen. Sie sind | |
ja an normale Umstände gewöhnt", erläutert er schelmisch. In diesem | |
ebenerdigen Gebäude werden die Lebensmittel der Region getestet, wenn nicht | |
gerade eine mobile Einheit auf die Dörfer fährt. "Für Milch sind die | |
Grenzwertüberschreitungen in den letzten Jahren ähnlich hoch geblieben. | |
Aber bei Pilzen und Blaubeeren steigen die Werte an", referiert Dr. | |
Schuljak dynamisch. Nur in einem Nebensatz merkt er an, dass 1997 die | |
Grenzwerte des Cäsium-137-Gehalts für getrocknete Pilze noch bei 370 | |
Becquerel per Kilogramm gelegen hätten. Derzeit lägen sie bei 2.500. | |
Natürlich habe die Katastrophe von Tschernobyl auch heute noch einen | |
gravierenden Einfluss auf Nahrungsmittel und auf das Leben im Allgemeinen. | |
"Was die genauen Nachwehen sind und wie sie sich weiter auswirken, wissen | |
wir immer noch nicht. Deswegen müssen wir die Folgen weiter studieren und | |
auch künftig Lebensmittel untersuchen", bedeutet der 61-Jährige. "Und für | |
gewöhnlich zeigen wir die Fehler im System auf", sagt er, ohne die Folgen | |
für seine Arbeit weiter zu erwähnen, spielt mit seinem Kugelschreiber und | |
lächelt wieder sein einladendes Lächeln. | |
Einladend lächelt auch Tamara Bytschkowska und winkt die Gäste in ihr Haus | |
hinein. Stolz und frisch gestrichen steht es zwischen anderen Häusern, von | |
denen nur noch eine Ahnung dessen, was sie einmal waren, übrig ist. | |
Zertrümmerte Fenster, herabhängende Türrahmen, eingestürzte Dächer und | |
bewachsene Innenräume. Außer vereinzeltem Hundegebell herrscht hier eine | |
Totenstille. | |
Tamara lebt in Rudnija Sherewetska, einem kontaminierten Dorf, | |
klassifiziert als Zone 2, 100 Kilometer westlich von Tschernobyl. Hier war | |
die Umsiedlung nach der Katastrophe eigentlich Vorschrift. Noch immer | |
liegen die Strahlenwerte über 5 Millisievert pro Jahr. "Aber ich lebe hier. | |
Nur gemeldet bin ich hier nicht, weil wir offiziell nicht hier leben | |
sollen", sagt sie und schiebt ihren lilafarbenen T-Shirt-Ärmel hoch. "Wir | |
haben ein anderes Haus in einer anderen Gegend bekommen, aber was hilft mir | |
das? Dieses Haus haben mein Mann und ich gebaut. Hier sind wir | |
aufgewachsen. Wenn wir jetzt das Haus zurücklassen, wird es genauso | |
zerstört wie die anderen Häuser hier. Das verkrafte ich nicht", schildert | |
sie. Nur bekommen sie keine Entschädigung, solange sie ihr Haus nicht | |
verlassen. Und selbst dann ist das fraglich. "Niemand hat uns damals | |
informiert, dass wir nur sechs Monate Zeit haben, die Entschädigung zu | |
beantragen." Um ihr spärliches Einkommen aufzubessern, sammelt sie Pilze. | |
Über deren Radioaktivität weiß sie Bescheid. Aber im Herbst kämen immer die | |
Laster, die seien gute Abnehmer. | |
## Medizin kostet | |
Ein moosgrüner Samtüberwurf schmückt das Sofa in Mykola Isajews Wohnung in | |
Kiew. Mykola Isajew war einer der sogenannten Liquidatoren. So bezeichnete | |
man jene Männer, die für die Aufräumarbeiten während und nach der | |
Atomkatastrophe zuständig waren. Viele Auszeichnungen und Medaillen hat | |
Isajew für seinen selbstlosen Einsatz erhalten. In seinem Alltag helfen sie | |
ihm allerdings nicht weiter. Der 66-Jährige leidet unter schweren | |
Allergien, Asthma, Hepatitis, Blutarmut und Bauchspeicheldrüsen-Diabetes. | |
Mehrmals im Jahr verbringt er zwei Monate im Krankenhaus. | |
Heute kritisiert er den Umgang der Regierung mit den Liquidatoren und den | |
Tschernobyl-Opfern. "Seit 2011 ist die Medizin für Liquidatoren nicht mehr | |
umsonst. Außerdem müssen wir selbst für unsere Operationen zahlen. | |
Tatsächlich erhält nur ein Prozent der 4.800 Liquidatoren, die in diesem | |
Stadtteil von Kiew leben, überhaupt Zugang zu Rehabilitationsmaßnahmen." Er | |
schaut ernst durch seine große, goldumrandete Brille. "45.000 Menschen | |
haben immer noch keine unbefristete Wohnmöglichkeit, davon sind allein | |
15.000 sogenannte Tschernobyl-Invaliden. Das ist aber noch nicht alles." Er | |
beginnt heftig zu husten. "Die Regierung will alle Hilfsmaßnahmen für | |
Tschernobyl-Opfer streichen. Obwohl unsere Verfassung besagt, dass es | |
Pflicht des Staates sei, die Konsequenzen der Tschernobyl-Katastrophe zu | |
überwinden." Er stützt sich auf seine Knie und beugt sich nach vorn. "In | |
der Theorie ist das ein gutes Gesetz. In der Praxis wird es aber nicht | |
umgesetzt." | |
Mykola Isajew hat früh festgestellt, dass er sich nicht auf die Regierung | |
verlassen kann. Bereits 1991 hat er den Verein der Tschernobyl-Opfer | |
gegründet, dessen Vorsitzender er wurde. Heute ist er Vizepräsident der | |
Chernobyl Peoples Party, die 1998 ins Leben gerufen wurde und die versucht, | |
parlamentarischen Druck auf die Regierung auszuüben. Wie notwendig diese | |
Arbeit ist, belegt auch der Trinkspruch der Liquidatoren: "Auf ein | |
lebendiges Wiedersehen." | |
24 Apr 2011 | |
## AUTOREN | |
Nina Schulz | |
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